28.06.2018

«Chefanwalt vor Ort»

Eine Studie weist diesen Zusammenhang nach: Je mehr eine Regionalzeitung über Politik berichtet und je höher ihre Auflage ist, desto besser ist die Stimm- und Wahlbeteiligung in den Gemeinden.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Gert BrudererSteht beispielsweise die Wahl eines Kreisrichters bevor, erfährt die Bevölkerung darüber wenig bis nichts, sofern nicht die Lokalzeitung das Thema behandelt. Die Gemeindeblätter, deren Zahl gestiegen ist, widmen einer Richterwahl kaum eine Zeile, geschweige denn einen erhellenden Beitrag, der verschiedene Aspekte beleuchtet und politische Zusammenhänge beschreibt. «Rheintaler» und «Rheintalische Volkszeitung» waren es, die am 25. Mai unter dem Titel «Alter SVP-Anspruch, neuer Kopf» ausführlich dargelegt haben, worum es bei der bevorstehenden Wahl eines Kreisrichters geht.Warum was wo geschiehtAuch für die Beschreibung politischer Vorgänge in einem Dorf bedarf es nach wie vor der Lokalzeitung. Wer sonst nimmt sich der Sache an? Über die Auflösung der CVP St. Margrethen war unter dem Titel «Herber Verlust für Lokalpolitik» am 30. Mai in der Lokalzeitung zu lesen, warum es zur Auflösung kam, was sie bedeutet und was die politische Konkurrenz vom Verschwinden der traditionsreichen Ortspartei hält.Wie stark journalistische Berichterstattung sich von amtlicher Information abhebt, zeigt sich auch, wenn für ein Dorf relevante Pläne bekanntzugeben sind. Als die Gemeinde Diepoldsau Ende Mai kundtat, wo Stefan Britschgis neue Rüsthalle entstehen soll, ging es der Lokalredaktion darum, diese Mitteilung von jeglichem Amtskauderwelsch zu befreien, die Vorgeschichte einzubeziehen, den Standort zu zeigen und die Änderungen, die mit dem Bauprojekt verbunden sind, zu erklären.Wer erfahren wollte, warum in Altstätten der Start für den Spitalumbau blockiert ist, hätte darauf ewig warten können, denn weder Stadt noch Spitalverbund hatten es als ihre Aufgabe betrachtet, den Sachverhalt darzulegen, der die Verzögerung begründet. Erst die Lokalzeitung klärte die Bevölkerung am 9. Mai darüber auf.Ohne Zeitung keine Oberrieter KampfwahlDie Behauptung ist womöglich kühn, sie lässt sich aber untermauern: Ohne Lokalzeitung wäre der Oberrieter Gemeindepräsident Rolf Huber bei den letzten Gesamterneuerungswahlen nicht von einem Gegenkandidaten herausgefordert worden. Dass der teilweise entstandene Unmut über die Amtsführung und über bestimmte Verhaltensmuster des Präsidenten überhaupt publik geworden war, ist das Verdienst der Lokalzeitung. Auch andernorts Regierende mussten sich in den letzten Jahren Kritik gefallen lassen, und nicht jedem ist es wie Rolf Huber beispielhaft gelungen, nicht gleich rot zu sehen.Darzulegen, wie jemand ein Amt ausübt, gehört eben auch zu den journalistischen Aufgaben, und falls es erforderlich scheint, jemandem an den Karren zu fahren, soll eine Lokalzeitung das tun. Ein politisch Handelnder wird diese Leistung ja nicht selbst erbringen wollen. Und Behörden oder Behördenmitglieder sind naturgemäss nicht an der Publikation von Beiträgen interessiert, die eigenen Interessen zuwiderlaufen.Im Gegenteil sind eigene Mitteilungsblätter den Verantwortlichen von Schule und politischer Gemeinde ein zweckdienliches Sprachrohr. Es zu ihren Gunsten einzusetzen, ist zwar das gute Recht einer Gemeinde, aber nicht in jedem Fall im Sinne der Bevölkerung.Als vor Jahren die Schulen von Altstätten und Lüchingen fusioniert werden sollten, war der behördliche Faltprospekt zu diesem Thema reine Propaganda.Politisch Handelnde wollen Entscheidungen durchsetzen und haben ein Interesse daran, jene Tatsachen ins Licht der Öffentlichkeit zu bringen, die für ihre Pläne sprechen und ihnen Recht geben. Die Lokalzeitung ist dazu da, unabhängig und unter Einbezug auch widersprechender Argumente den Blickwinkel zu öffnen und allenfalls eine Beurteilung vorzunehmen.Lokalzeitungen unter DruckDer Erfinder des Deutschen Lokaljournalistenpreises, Dieter Golombek, nannte die lokale Tageszeitung einst den «Chefanwalt für Öffentlichkeit vor Ort». Zu den Aufgaben der Lokaljournalisten gehören also das Hinterfragen, das Recherchieren, vielleicht sogar Rehabilitierung wie im Fall der SVP St. Margrethen, die während Jahren beharrlich belächelt wurde – bis sie mit ihrem Kampf für die Offenlegung des Schulpräsidentenlohns einen wegweisenden Gerichtsentscheid erzwang.Die Entwicklung der Medienlandschaft ist unerfreulich: Viele Zeitungen haben sich in den letzten Jahren zusammengeschlossen, die Zahl der eigenständigen Regional- und Lokalzeitungen nahm laufend ab. Zur verschärften Konzentration gehören zunehmend Kooperationen zwischen Medienverbünden. Auch wegen Gratiszeitungen und digitaler Medien sehen die Lokalzeitungen sich zusehends unter Druck.«Medienschwund bedroht Demokratie»Zurück zur eingangs erwähnten Studie, die Daniel Kübler und Christopher Goodman, zwei Politikwissenschaftler der Uni Zürich, durchgeführt haben. Der Medienschwund bedrohe die Demokratie, lautet ihr ernüchterndes Fazit.Für ihre breit angelegte Studie haben Kübler und Goodman Daten aus 408 Gemeinden mit mehr als drei Millionen Einwohnern einbezogen. In ihrer Medienmitteilung zur Studie schrieb die Universität Zürich, nicht nur die Zahl der Regionalzeitungen in der Schweiz sei am Sinken, sondern gleichzeitig nehme die Wahlbeteiligung immer mehr ab – in den Gemeinden des Kantons Zürich seit den Siebzigerjahren von 70 auf 37 Prozent. Die Studie belegt: Weiss jemand über seine Region Bescheid, ist die Chance grösser, dass er an Wahlen und Abstimmungen teilnimmt.Der beschriebene Zusammenhang zwischen Medienkonsum und Wahlverhalten überrascht keineswegs. Obschon es für die stark gesunkene Wahlbeteiligung gewiss eine ganze Reihe von Gründen gibt, bleibt eines klar: Demokratie setzt auch im Jahr 2018 den informierten Bürger voraus. Den Bürger und die Bürgerin, die wissen, worum es geht und die mitdenken und mitwirken.Mitunter raucht einem Redaktor dermassen der Kopf, dass über ihm die Decke schwarz zu werden droht. Denn manche Medienmitteilungen haben die Qualität, entweder wortreich nichts zu sagen oder Interessantes so fachgerecht zu verstecken, dass zuerst eine tiefgreifende Analyse der Medienmitteilung erforderlich ist, um zum Kern ihrer Aussage vorzustossen. Auch darum geht einer Lokalredaktion die Arbeit nicht aus. Und die guten Gründe, einer Lokalzeitung treu zu bleiben, werden wohl in vielen Jahren immer noch die gleichen sein.

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