15.02.2022

Blutarmut als «Laune der Natur»

Der fünfjährige Livio aus Altstätten hat eine Diamond-Blackfan-Anämie. Den 8. August 2018 überlebte er nur knapp.

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 02.11.2022
Schon wenige Monate nach der Geburt fuhren Judith und Michael Zogg mit ihrem jüngeren Sohn ins Kinderspital, weil er blass war und zunächst die Vermutung bestand, er vertrage die Muttermilch nicht. Tatsächlich litt er unter einem Mangel an roten Blutkörperchen. Der Bluttransfusion folgten mehrere Kontrollen im Abstand von zwei bis drei Wochen, es schien alles gut zu sein.Dann kam der 8. August 2018. Judith Zogg war beim Einkaufen, als zwei ältere Frauen bemerkten, der Bub sehe blass aus, etwas später doppelte Livios Grossvater nach, indem er mahnte: «Judith, wötsch denn eifach warte, bis er gschtorbe isch?» Der Satz ist Judith Zogg geblieben.Krankenkasse verneinte zunächst den teuren TestNoch am gleichen Tag wurde Livio im Kinderspital untersucht, und wieder waren nur 20 Prozent rote Blutkörperchen vorhanden. Solche Patienten kämen eher mit der Rega statt im Auto, sagt der Arzt in Judith Zoggs Erinnerung. Seit jenem Tag wird regelmässig kontrolliert, am Anfang wöchentlich, nun alle drei Wochen.Das Problem war, dass man anfangs das Problem nicht kannte. Erst ein Test ergab, dass Livio mit einem Gendefekt zu leben hat.Die Krankenkasse hatte sich zunächst geziert, den Test zu finanzieren, immerhin 3000 Franken kostet er. Ein Brief des spezialisierten Arztes war zu wenig, mehrfach musste er der Krankenkasse schreiben, bis der Test bewilligt wurde.Überhaupt, das Bittibätti.Nicht nur Zoggs, auch Eltern anderer Kinder mit einer seltenen Krankheit wissen, wie erniedrigend es ist. Es gab für Zoggs finanziell jedoch so etwas wie ein Happy End: Der Nachweis eines Gendefekts bewirkte, dass die IV alle Kosten übernimmt.Anfangs hatte es geheissen, Kinder mit Livios Gendefekt bekämen später vielleicht Leukämie. «Doch darüber nachzusinnen, was uns alles widerfahren könnte, bringt ja nichts.» Entsprechend zuversichtlich schauen Zoggs nach vorn.Kortisontherapie bei tiefer DosierungHeinz Hengartner, der den Buben am Kinderspital ärztlich betreut («ein Superarzt», sagt Judith Zogg), nährt diese Zuversicht, indem er sagt, dank der heutigen medizinischen Möglichkeiten müsse Livios Lebenserwartung nicht tiefer sein als die von Menschen ohne Gendefekt.Erwachsene mit Livios Syndrom hätten zwar ein erhöhtes Risiko einer Tumorbildung, doch ebenso gut kann es sein, dass alles gut kommt. Die früher bei Bluttransfusionen nachteiligen Eisenablagerungen in Organen sollten dank entsprechender Medikamente nicht mehr vorkommen.Behandelt wird Livio heute mit Kortikosteroiden. Umgangssprachlich wird von einer Kortisontherapie gesprochen. Weil Livio schon bei tiefer Dosierung auf die Therapie anspricht, sind keine schlimmeren Nebenwirkungen zu befürchten. Eine gewisse Gefahr besteht allerdings darin, dass eine Resistenz des Körpers und somit eine Wirkungslosigkeit der Kortisonsteroiden nicht ganz auszuschliessen ist.Bluttransfusionen sollten dank der Therapie nicht nötig sein. Mitte November sei Livio aber apathisch geworden, sagt Michael Zogg. Obschon atypisch, war eine Transfusion nötig geworden, die letzte seither.Ein Kind wie alle anderen, nur etwas kleinerLivio hat Glück im Unglück. Verschont von Fehlbildungen, wie sie bei seiner Krankheit vorkommen können, ist er im Alltag kaum eingeschränkt. Was ihn allerdings begleiten kann, ist eine grosse Müdigkeit. Noch mit vier schlief er nachmittags immer vier Stunden, und obschon bereits um acht im Bett, schlief er jede Nacht durch. Auch Kurzatmigkeit erlebten Zoggs als wiederkehrendes Symptom.Nachdem der Bub vor einem Jahr in einem Tennisschnupperkurs alle Bälle sehr zielsicher traf, fing er mit Tennisspielen an. Jemand hatte gemeint, Livio sei ein Talent, «da muesch fördere, Judith».Im Kindergarten, den der Bub seit letztem Jahr besucht, ist er ein Kind wie alle anderen. Nur seine Körpergrösse weicht ein wenig ab. Mit 99 Zentimetern zählt er zu den Kleinsten derer, die eine Normalgrösse haben.Livio begeistert sich für EishockeyDas besondere Interesse beider Söhne gilt dem Eishockey. Der elfjährige Roman war bis im letzten Jahr während sechs Jahren Goalie beim SCR. Doch wöchentlich fünf Trainings und ein Spiel am Wochenende wurden mit der Zeit zu viel.Womöglich wird auch Livio einmal ein Spieler sein, fürs Eishockey begeistert er sich jedenfalls. Zusammen mit der Mutter und dem Bruder sieht er sich ein Heimspiel nach dem andern an, der Vater ist als Grillchef des Vereins auf spezielle Weise eingespannt.Den Gendefekt des Sohnes nennt die Mutter eine Laune der Natur. Der Doktor sagt das ebenfalls und fügt hinzu, seltene Krankheiten mit der Frage nach einer Schuld zu verbinden, sei unangebracht. Es komme aber leider immer wieder vor. Von diesem Hinweis völlig unabhängig, meint der Arzt: Das Blutbild beider Eltern Livios ist ganz normal. Tag der seltenen KrankheitenSeit 2008 gibt es den Tag der seltenen Krankheiten. In jenem Jahr war es der 29. Februar und somit der seltenste Tag eines Jahres. In Nicht-Schaltjahren ist der 28. Februar der Tag der seltenen Krankheiten, mit dem auf die Belange der Betroffenen aufmerksam gemacht wird.In der Schweiz sind rund 350000 Kinder und Jugendliche von einer seltenen Krankheit betroffen. Ihre Familien sehen sich mit unzähligen Herausforderungen konfrontiert. Der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten unterstützt diese Familien auf ihrem Weg.Bis zur richtigen Diagnose haben betroffene Familien durchschnittlich sieben Ärzte aufgesucht. 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen erhalten mindestens eine Fehldiagnose. Im Durchschnitt dauert es fünf Jahre, bis eine seltene Krankheit diagnostiziert wird. Nur 350 von 8000 seltenen Krankheiten können derzeit wirksam behandelt werden und drei von fünf Kindern sterben vor ihrem fünften Geburtstag. Hinzu gesellen sich oftmals administrative Hürden und finanzielle Herausforderungen.In der Schweiz haben nur 18 Kinder Livios SyndromLouis Diamond und Kenneth Blackfan beschrieben die erbliche hypoplastische Anämie erstmals 1938. Das Diamond-Blackfan-Syndrom ist ausgesprochen selten. Mit einer Häufigkeit von 0,3 Erkrankungen auf 100000 Menschen (laut Wikipedia) sind aplastische Anämien (inklusive der Sonderformen Fanconi-Anämie und Diamond-Blackfan-Syndrom) in Europa so selten, dass die meisten Mediziner mit dieser Erkrankung während ihrer gesamten Arbeitszeit nie konfrontiert werden. In der Schweiz leben 18 Kinder mit der gleichen seltenen Krankheit wie Livio. Fünf von ihnen werden von Kinderarzt Heinz Hengartner betreut.

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