Benjamin SchmidEs ist kurz vor halb zwei Uhr, als ich an der Türglocke von Jelusic klingle. Sekunden später öffnet sich die Haustür mit einem summenden Geräusch, und man heisst mich einzutreten. Bald werde ich dem jungen Herrn gegenüberstehen – und im Gegensatz zu ihm, ihn nicht nur hören, sondern auch sehen können. Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich auf dem Weg die Treppe hinauf zu seiner Wohnung. Es ist das erste Mal, dass ich mit einem Blinden in Kontakt trete. Noch bevor ich bei ihm angekommen bin, höre ich das Bellen eines Hundes hinter der Tür. Schon öffnet sich diese, während eine freundliche Stimme mich auffordert, einzutreten. Vor mir steht Anto Jelusic, mit Sonnenbrille und einem Lächeln im Gesicht. Ich ergreife seine Hand, die er mir zur Begrüssung hinstreckt, und trete ein. Sofort werde ich von Sambo umkreist und beschnuppert. Sambo ist Jelusic’ Blindenführhund. Seit 2014 steht er dem 31-Jährigen zur Seite, hilft ihm, sich im Alltag zurechtzufinden und schützt ihn vor gefährlichen Situationen. Dafür wurde Sambo zwei Jahre lang in der Ostschweizerischen Blindenführhundeschule in Goldach ausgebildet. Beeinträchtigung kaum zu merken«Ich führe ein ganz normales Leben», sagt Jelusic bereits nach wenigen Minuten und ergänzt: «Ich mache meine Wäsche, ich koche, benutze Medien, um mich zu informieren, lese Bücher und verreise in den Urlaub.» Mit der Sprachfunktion «Voice over» kann er das iPhone wie Sehende nutzen und hat dadurch Zugriff auf das Internet. «Besonders gern mag ich Dokumentationen auf Youtube», sagt Jelusic und fügt an: «Aber auch Tennis- und Fussballmatches finde ich klasse.» Je besser die Audioübertragung oder -Beschreibung ist, desto leichter fällt es ihm, die Inhalte zu verstehen. Aus diesem Grund reizen ihn Auto- oder Skirennen überhaupt nicht: Das Dröhnen der Motoren wie auch die Schwünge der Skirennfahrer hören sich immer ähnlich an. Jelusic liest in seiner Freizeit gern. Besonders Science-Fiction-Bücher haben es ihm angetan. Darüber hinaus liest er auch Thriller und Krimis, Liebesromane hingegen weniger. Gesellig, wie Jelusic ist, verbringt er seine Freizeit aber am liebsten mit seinen Freunden und Verwandten. Einerseits unterstützen sie ihn bei der Wahl der Kleidung, andererseits helfen sie ihm bei Grosseinkäufen. «Die alltäglichen Einkäufe erledige ich im Dorfladen», sagt der Blinde. Entscheidend für sein Wohlbefinden ist nicht die Geschwindigkeit, mit der er seinen Alltag bewältigt, sondern die Qualität, wie die Aufgaben erledigt werden. Kommunikation ist entscheidend Wo immer es möglich ist, versucht er sich selbstständig zurechtzufinden. Bei stark befahrenen Strassen fällt es ihm schwer, die Vibrationen der Strassenampel zu fühlen, weil die Erschütterungen durch den Verkehr zu gross sind. Dann sei es schwierig abzuschätzen, ob es grün ist oder nicht. In solchen Fällen hilft ihm Sambo. Indem der Hund stehen bleibt und aktiv den Befehl des Herrchens zu gehen verweigert, macht er diesen auf mögliche Gefahrensituationen aufmerksam. Sobald aber viele Menschen um ihn herum sind und lärmen, kann es auch für den Hund zu viel werden. «Dann hilft nur noch eines», sagt der Widnauer, «Ich muss meinen Weg erfragen.»Auch wenn sich unverbesserliche Menschen manchmal einen Scherz erlauben und ihn extra in eine falsche Richtung schicken, so sei die Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft gross. «Es kann aber vorkommen, dass ich keine Hilfe benötige und etwas harsch auf Hilfsangebote reagiere.» Dies sei keinesfalls bös gemeint, sondern der hohen Konzentration geschuldet, die er brauchte, um sich zu orientieren. Nicht nur bei Gefahren, sondern auch in schönen Momenten hilft die Kommunikation. «Kein Mensch kann Gedanken lesen», sagt Jelusic und ergänzt: «Auch Blinde nicht. Wenn ich einer Frau gefalle, sehe ich das Glänzen in ihren Augen nicht, sondern brauche akustische Anreize.» Blindheit sei kein Grund, sich nicht ins Nachtleben zu stürzen. Jelusic geniesst gern ein Bier mit seinen Kollegen, flirtet mit Frauen oder feiert bis in frühe Morgenstunden an einer Party. «Ich habe die gleichen Bedürfnisse wie du auch», sagt er, während er sich eine Zigarette dreht. Die Welt erkundenBeim Gespräch mit Jelusic fällt mir auf, dass mir ein feinfühli- ger junger Mann gegenübersitzt, der genau zuhört und seine Meinung in differenzierter Weise kundtut. Mir fällt auf, dass er seine Umwelt ganz genau wahrnimmt. Er spricht von seinem Alltag und seiner Leidenschaft zu reisen. «Ich lerne gern neue Menschen aus anderen Kulturen kennen», sagt er. Daher bemüht er sich jährlich, ein paar Tage Urlaub zu machen. Aktuell plant er eine Reise nach England, wo er einen alten Freund besuchen möchte. Ausserdem gäbe es noch einige Städte, die ihn interessieren würden: New York, Singapur oder Buenos Aires.Mittlerweile sei er geübt im Reisen – aber er musste es – wie vieles in seinem Alltag – zuerst lernen. Jelusic lässt sich nicht von seinen Träumen abhalten. «Solange ich fit und gesund bin, möchte ich die Welt entdecken».