Mitten in der Nacht geht es für rund 500 Extremsportlerinnen und Extremsportler los. Die Laufschuhe werden geschnürt, die Verpflegung bereitgestellt und die Stirnlampe angezündet. Mit dabei Thomas Nickel. In rund 20 Stunden legt er 111 Kilometer zu Fuss zurück und überwindet dabei über 8400 Höhenmeter – neunmal von Altstätten auf den Stoos und retour. Nicht auf asphaltierten und flachen Strassen, sondern abseits der Zivilisation, querfeldein über die Walliser Alpen.Die Strecke führt durch drei Täler und über zahlreiche Berggipfel rund um Verbier. Der Lauf beginnt gleich mit zwei steilen Aufstiegen: auf den Gipfel des Catogne (2598 m) und anschliessend zur Cabane d’Orny (2826 m) am Rande des gleichnamigen Gletschers. Während für den ersten Gipfel innert zehn Kilometer über 1800 Höhenmeter zurückgelegt werden, erreichen die Teilnehmer beim zweiten Gipfel bereits das Dach des Ultra-Trails. Nach der Hälfte der Strecke wartet mit den beiden Pässen Col de Fenêtre und Grosser Sankt Bernhard eine weitere körperlich anstrengende sowie technisch anspruchsvolle Passage auf die Athleten. «Zu dieser Zeit spürt man die ersten Ermüdungserscheinungen und der Körper macht sich in regelmässigen Abständen bemerkbar», sagt Nickel, der den Trail bereits vor ein paar Jahren in Angriff genommen hat. «Damals war ich nicht so gut vorbereitet und schaffte es ins Ziel, allerdings mit vielen Anfängerfehlern.» Nebst dem körperlichen Training hat er sich stets auch mit seinen mentalen Grenzen auseinandergesetzt, schliesslich sei es bei solch extremen Läufen vor allem eine Frage des Willens, ob man das Ziel erreicht oder nicht. «Es gilt nicht nur eine Distanz von 111 Kilometern, sondern gleichzeitig auch noch über 8400 Höhenmeter zu bewältigen», sagt Nickel und ergänzt: «Bei derart langen Distanzen wechseln sich euphorische Phasen, in denen man im Flow läuft und weder Müdigkeit noch Schmerzen verspürt, mit Phasen der völligen Erschöpfung und Lustlosigkeit ab.» Dann zeige sich die mentale Stärke der Sportler.Hoher TrainingsaufwandDer gebürtige Bayer trainiert oft, aber nicht verbissen. Um Familie, Beruf und Hobby unter einen Hut zu bringen, bedarf es einer guten Planung, ebenso wie der Unterstützung seiner Frau. «Die grösseren Trails plane ich mit meiner Frau, stimme meine Trainings mit ihr ab und schaue, dass das Familienleben dabei nicht auf der Strecke bleibt.» Natürlich könne er seiner Leidenschaft nur mit Entbehrungen frönen. Diese seien jedoch meistens klein und nichtig, vor allem in Anbetracht dessen, was ihm das Laufen gibt: «Einerseits erhalte ich wunderschöne Ein- und Ausblicke in die Natur, andererseits wird mein Alltag durchs Laufen entschleunigt», sagt der 40-Jährige. Beim Laufen durch die Gegend reflektiere er den Alltag, lote die mentalen und physischen Grenzen seines Körpers aus und nehme sich selbst, aber auch die Einflüsse der Umwelt bewusst wahr.Ein Fehler, den viele Läufer begehen, sei, zu viel zu wollen und krampfhaft die angestrebten Ziele zu erreichen. Manchmal sei weniger mehr. Nickel trainiert fast täglich. Meistens steht er um fünf Uhr auf und rennt zwei bis drei Stunden, bevor er als Lehrer vor seine Klasse steht. Ob bei Sonnenschein oder Regenwetter, kneifen gilt nicht. Und dennoch gebe es Tage, an denen er keine Lust hat. Dann lässt er es bleiben. Entscheidend seien nicht die Kilometer, die man abspult, sondern die Erfahrung, die man beim Laufen sammelt. Nur wer aus Fehlern lernt, die Zeichen seines Körpers richtig deutet und den Willen hat, Unmögliches möglich zu machen, kann über solche Distanzen bestehen.Während sich unsereiner fragt, welche Beweggründe Ex-tremsportler wie Nickel antreiben, ihren Geist und Körper solchen Torturen auszusetzen, scheint für Nickel selbst die Antwort logisch: «Seit jeher sind körperliche Belastungen Bestandteil meines Lebens», sagt er und ergänzt: «Wenn ich mich nicht bewege, dann fehlt etwas.»Lieber im Gelände als auf StrassenDie Leidenschaft für den Laufsport begleitet ihn seit Jahren. War er in jüngeren Jahren vor allem im Triathlon tätig, reizten ihn längere Laufdistanzen mit der Zeit zusehends. Über den Marathon sei er vor knapp acht Jahren zu den Ultraläufen gekommen. Weniger die Distanz, als das Laufen durch das Gelände habe ihn gereizt. «Lief ich früher immer dieselbe Runde auf Strassen und Gehwegen, so liebe ich es heute, abseits von Wegen, quer durch die Natur zu rennen.»«Nicht streng, sondern schön»Dieser Bezug zur Natur sei mitunter eine Gemeinsamkeit, die viele Gleichgesinnte teilen oder wie eine Bekannte von Nickel zu sagen pflegt: «Das war nicht streng, sondern schön.» Dieses Motto hat er sich zu Herzen genommen und sich eine positive Sichtweise angeeignet. «Anstatt zu schauen, was ich noch laufen muss, schaue ich zurück, was ich bereits erreicht habe», nennt Nickel eines seiner Geheimnisse beim Laufen. Während des Trails komme es oft vor, dass er sich selbst zu Höchstleistungen ansporne. Wichtig sei es, sich selbst zu pushen und an den positiven Dingen festzuhalten. Trainiert werde nebst Ausdauer und Kraft auch, wie man in schwierigen Situationen kühlen Kopf bewahrt, wie man aus antriebslosen Momenten heraus in die Flow-Momente läuft oder aber wie man sich mit einem Stück Käse belohnen und motivieren kann. «Ein Ultralauf ist ein ständiger Kampf zwischen Aufgeben und Weitermachen, zwischen Unlust und Euphorie, zwischen Mensch und Natur», sagt Nickel und fügt an: «Am Ende bleiben nicht nur Muskelkater und Müdigkeit übrig, sondern eine Fülle von unvergesslichen Augenblicken und unbeschreiblichen Erlebnissen.»Benjamin Schmid