11.11.2020

"Beim Schreiben lege ich mein Herz auf das Papier"

Ein Leben lang kämpfte Akife Hüseynova für Menschenrechte. Deshalb musste sie ihre Heimat verlassen.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
Akife Hüseynova, geboren in Aserbaidschan, lebt seit drei Jahren in der Schweiz, die letzten beiden in Altstätten. Gemeinsam mit ihrem Mann Sükür, Tochter Gülüzar und Sohn Ali Asaf wünscht sie sich eine Zukunft in der Schweiz. «Noch ist nichts entschieden», sagt die Mutter, «wir leben jeden Tag in  Unsicherheit». Die Hoffnung, bleiben zu können, schwinde. Um die Kinder zu schützen und ihrem Kummer trotzdem Ausdruck zu verleihen, begann die 36-Jährige zu schreiben. «Beim Schreiben lege ich mein Herz auf Papier», sagt die ausgebil­dete Kindergartenlehrerin. Nun wurde ihr Text «Ich will Hoffnung» beim internationalen Schreibwettbewerb «Grenzen überwinden» der Region Zürich ausgezeichnet. Ihr Ziel war es, nicht zu gewinnen, sondern ihre Geschichte zu erzählen und gehört zu werden. «Die Auszeichnung freut mich und löst Gefühle aus, die ich längst vergessen hatte.»Von heute auf morgen heimatlos gewordenFrüh erkannte Akife Hüseynova das Unrecht, das in Aserbaidschan herrschte. Sie konnte und wollte nicht die Ungerechtigkeiten und politischen Fehlentscheidungen akzeptieren, weshalb sie politisch aktiv wurde. Sie habe für mehr Demokratie und gegen das Regime gekämpft und trotz Polizeigewalt an De­monstrationen und Konferenzen teilgenommen. Ihre Bemühungen fruchteten nur wenig, die Missstände blieben sowie das Leid in der Bevölkerung. Vor drei Jahren musste die Familie ihr Leben komplett umkrempeln. Während eines Ferienaufenthalts bei einem Onkel in der Schweiz, hiess es plötzlich, dass sie Vaterlandsverräter seien. Man unterstellte ihnen Flucht, und es begann eine Hetzjagd. «Bei einer Rückkehr erwartete uns Haft für unbestimmte Zeit», sagt Akife Hüseynova, «es war wie ein Schlag ins Gesicht.» Vom Gefühl nutzlos zu seinSie fühlten sich ausgeliefert, von der Heimat verlassen. «Wir wurden von der Schweiz sehr herzlich aufgenommen», sagt die ehemalige Schachlehrerin. Trotz fehlender Sprachkenntnisse, fühlten sie sich nicht fremd. Nach all der erfahrenen Unterdrückung, Gewalt und Willkür, gefallen ihr in der Schweiz das Mitbestimmungsrecht und die freie Meinungsäusserung, ebenso wie das Gefühl der Sicherheit. Und doch stünden ihr und ihrer Familie einige Hürden bevor, die es zu nehmen gilt. Statt ihrer angestammten Arbeit nachzugehen, heisst es vorderhand Deutsch lernen. Statt eines geregelten Alltags, erwartet sie immer wieder Neues und Unerwartetes. Über alledem schwebt die Unsicherheit, Asyl zu erhalten und schlimmer noch, dass damit einhergehende Gefühl, nutzlos zu sein.Grenzen überwinden, um Hoffnung zu findenWenn sie an Aserbaidschan denkt, blutet ihr Herz. Einerseits wegen der politischen Situation, andererseits teilte sie schon auch schöne Erinnerungen mit ihrem Geburtsland. Manchmal, wenn der Regen fällt, steige ihr ein besonderer Geruch in die Nase. «Das sind Momente, in denen ich wehmütig an unsere ehemalige Heimat denken muss», sagt die Migrantin. Ob sie gerne zurückkehren möchte? Nicht unter diesen Umständen. Es sei nicht nur der Krieg um Bergkarabach, sondern das herrschende Regime. «Ich habe Grenzen überwunden, um neue Hoffnung zu schöpfen», sagt die Mutter. «Ich kann mir für uns keine andere Heimat als die Schweiz vorstellen.» Das Rheintal gefällt ihnen, in Altstätten haben sie Freunde gefunden, und auch die Kinder leben gerne hier. Sie fühlten sich nicht mehr unbeholfen, son­dern verstanden und unterstützt. «Wir sind angekommen, fühlen uns heimisch und möchten bleiben», sagt Akife Hüseynova.Erstmals mit einem SchreibwettbewerbWas ist «StadtLesen»? Es ist nicht nur ein Lesefestival, das nunmehr seit zwölf Jahren mit über 3000 Büchern von über 125 Partnerverlagen und einem gemütlichen Lesewohnzimmer durch den gesamten deutschsprachigen Raum zieht. Vor allem bringt es der Gesellschaft etwas zurück, was schon lange verloren gegangen ist: die buchstäbliche Fantasie. In diesem Jahr hat «StadtLesen» noch etwas anderes im Gepäck: Grenzen überwinden, menschliche Solidarität erleben, offen sein für jeden Einzelnen. Das war, ist und wird «StadtLesen» immer sein. Die LiteraTour 2020 veranstaltet jedoch zum ersten Mal einen Schreibwettbewerb. (bes)Hinweis: Weitere Informationen unter: https://www.stadtlesen.com/schreibwettbewerb

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