05.03.2021

«Befehle bringen wir italienisch bei»

Familie Schlegel aus Thal zog einen Welpen auf, der heute ein Blindenführhund ist. Das liess ihre Tierliebe wachsen.

Von Hildegard Bickel
aktualisiert am 03.11.2022
Wächst ein Hund, der Blinde führen soll, bei einer sehbehinderten Person auf? Nein. Die ersten anderthalb Jahre verbringt er bei einer Patenfamilie, die ihn langsam an seine verantwortungsvolle Bestimmung heranführt. Mit Zeit, Geduld und Konsequenz. Und einem Herz für Tiere, das bei Silvia und Reto Schlegel sowie ihren drei Töchtern im Primarschul- und Oberstufenalter offensichtlich ist. Zwei schwarze Zwerghasen hoppeln im Garten, eine Katze streift um das Hochbeet und Aika, die Labradorhündin, kommt mit wedelndem Schwanz durch die offene Tür in die Küche.Aika ist seit letztem Oktober hier, nachdem die Familie entschieden hat, einen «normalen» Hund anzunehmen, den sie behalten will. Die Hündin füllt die Lücke, die Louie hinterlassen hat, der Welpe, den Schlegels während anderthalb Jahren aufgezogen haben und vorletzten Sommer zur Ausbildung als Blindenführhund weiterziehen liessen. Mittlerweile bildet Louie als wertvoller Begleiter ein Gespann mit einer sehbehinderten Frau, die in Zürich lebt.[caption_left: Die Erfahrung als Hundepatin bestärkte Silvia Schlegel, einen eigenen Hund zu wollen. Die Wahl fiel auf die Labradorhündin Aika.]Einen Hund mit Sonderstatus gewählt«Wir spielten schon länger mit dem Gedanken, einen Hund zu halten», sagt Silvia Schlegel. Als die Mädchen älter und bereit waren, Verantwortung zu übernehmen, ist die Familie auf die Stiftung Ostschweizer Blindenführhundeschule (OBS) in Goldach aufmerksam geworden. Anfängliche Bedenken, der Umgang mit einem Hund, der Sonderstatus geniesst, könnte eingeschränkt sein, verflogen bei einem Infogespräch.Doch es gibt Besonderheiten. Diese Hunde sollen Befehle wie «Sitz», «Platz» oder «Fuss» in Italienisch lernen. Von Vorteil ist der klare, reine Klang. Weil die Sprache nicht so oft zu hören ist, gibt es weniger Verwirrung an belebten Orten, wenn verschiedene Rufe ertönen. Am wichtigsten ist jedoch die Aufmerksamkeit, die eine Patenfamilie ihrem Schützling schenken soll. Silvia Schlegel war damals als Hausfrau und Mutter tätig und bereit, sich dieser Aufgabe zu stellen.Louie riss Gegenstände herum, besonders SchuheDie Familie liess sich auf einer Warteliste eintragen und erhielt schon nach zwei Wochen die Anfrage, ob sie einen Hund aufnehmen möchte. Bei einem Besuch überzeugten sich die OBS-Verantwortlichen, dass die Patenfamilie geeignet ist. Auch die Wohnform mit Einfamilienhaus und Garten erwies sich als ideal, das Grundstück musste nur noch umzäunt werden. 2018 kam Louie, ein Mischling aus Golden Retriever und Labrador, zu Schlegels. Die Trennung vom Rudel mit Mutter und Geschwistern war für den Welpen nicht einfach. Die ersten Nächte habe sie neben dem winselnden Hund geschlafen, erinnert sich Silvia Schlegel. Doch der kleine Hund lebte sich rasch ein, wuchs und war überstellig.«Wir haben eine gute Zeit erlebt, obwohl wir uns manchmal fragten, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.» Einem Welpen müsse alles von Grund auf beigebracht werden. Louie forderte seine Patenfamilie. Er riss Gegenstände herum, besonders gern Schuhe. Dinge, die nicht zwischen die Zähne des Hundes gelangen sollten, mussten in Sicherheit gebracht werden.«Es ist wichtig, als Familie am gleichen Strang zu ziehen», sagt Silvia Schlegel. «Sonst dauert es ewig, bis der Hund lernt. Die wichtigsten Regeln lauteten: der Hund darf nicht aufs Sofa, keine anderen Hunde anbellen, sich nicht von Umwelteinflüssen ablenken lassen und zuverlässig Appellen gehorchen. Trotz allem gibt es viel Freizeit. Denn auch angehende Blindenführhunde dürfen Spielen und Spass haben. Die OBS unterstützt die Patenfamilie mit enger Begleitung und regelmässig stattfindenden Junghundetrainings.Zuerst ausgetobt, dann ein MusterknabeBeim Spaziergang ist Louie aufgefallen. Er trug eine Schabracke, ein rotes Mäntelchen, das ihn als Hund in Ausbildung auswies. Sowieso ist Louie ein Hund, der die Blicke auf sich zieht. Obwohl er als Welpe im Haus sehr wild war, zeichnete er sich später durch menschenbezogenes und ruhiges Verhalten aus, das oft bei dieser Rasse zu beobachten ist. «Mit ihm konnten wir alles machen», sagt Silvia Schlegel. «Er fuhr sogar im Sessellift und durfte mit in die Ferien auf die Insel Elba.»Zu Trainingszwecken war es ihm erlaubt, beim Einkaufen in Geschäften dabei zu sein. Oft war die Familie im öffentlichen Verkehr unterwegs – eine Selbstverständlichkeit für einen künftigen Blindenführhund – und erhielt von der OBS dafür ein Hunde-GA. Durch die Arbeit mit Louie hat sich Silvia Schlegels Verständnis gegenüber sehbehinderten und blinden Menschen vertieft. «Ich bewundere alle, die ihr Leben mit dieser Beeinträchtigung meistern.»Mit der Dunkelbrille Blinden nachfühlen Manchmal war sie mit der Dunkelbrille unterwegs, um zu erleben, wie es sich für Blinde anfühlt, einem Hund zu vertrauen. Durch die Brille war nichts zu sehen. «Als wir am See zu ei­nem Bänkli spazierten, konnte ich kaum einschätzen, wie weit das Wasser entfernt war. Es war ein unheimliches Gefühl.» Sie findet es enorm wertvoll, einen Hund soweit zu bringen, dass er Sehbehinderten und Blinden ein Stück Selbstständigkeit und Mobilität zurückgeben kann.Nach der gemeinsamen Zeit mit dem Hund war es für Familie Schlegel schwer, Abschied zu nehmen, obwohl klar war, der Zeitpunkt würde kommen. Für Louie begann die intensive Phase seiner Ausbildung. Während mehrerer Monate lernte er bei einer Instruktorin den Umgang im Führgeschirr und musste zur Prüfung, bevor er mit der blinden Person zusammengeführt wurde.Familie Schlegel ist immer noch im Bilde darüber, wie es Louie geht und bietet sich an, wenn er ein Ferienplätzchen braucht.

Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 12 Franken im Monat oder 132 Franken im Jahr.