Vor Anouchka Lototzkys Haus liegt auch an diesem Spätherbsttag ein Blütentraum. Cosmeen, Dahlien, Gartenrosen, alle in sanftem Pastell. Lototzky geniesst die Pracht und ist gleichzeitig wehmütig. «Jeder Tag, an dem ich noch eine Dahlie schneiden kann, ist nun ein Geschenk», sagt die 55-Jährige. Ein paar kalte Nächte, schon ist alles vorbei. Bis März zumindest. Die Rheintalerin muss sich dann mit Trockenblumen begnügen.
Lototzky bestaunt ihre Blumen nicht nur, sondern fertigt aus ihnen auch Kunstwerke. Gestecke, wild und romantisch zugleich. Sie sagt: «Jede Blume, auch eine krumme, hat ihren Platz. Ich selektioniere nicht. Sie schauen nie in die gleiche Richtung. Das wirkt natürlich.»
Während Floristinnen nach Theorie vorgehen, steckt sie ihre Arrangements nach Gutdünken. Einfache Floristik, Sträusse im Gartenstil, nennt sie das. «Ich habe mir das Handwerk selber beigebracht und komme von der Kunst her, deshalb», erklärt sie. An eine Regel hält aber auch
sie sich: «Ein Schmetterling sollte zwischen den Blumen hindurchfliegen und sich hinsetzen können.»
Keine Rosen zum Valentinstag
Luftig und leicht wirken die Gestecke von Lototzky. Slowflowers nennt sich die Philosophie, die sie verfolgt. Blumen, saisonal, regional, ohne Dünger gezüchtet. Sie gehört dem gleichnamigen deutschen Verein an und ist in einem neuen Buch vertreten. Es stellt zwanzig Slowflower-Menschen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz vor. Frauen und ein Mann, die gerne Blumen haben, aber nicht zu jedem Preis. Nicht aus Kolumbien oder Ecuador, nicht importiert wie 90 Prozent der hier verkauften Ware. Keine Rosen zu Valentinstag also, «die sind oft überzüchtet und duften gar nicht mehr», wie Lototzky sagt. Die Hauptblütezeit der Blumensorte beginnt im Juni.
Eigentlich hat die Halbfranzösin, die in Luzern aufgewachsen ist, Sprachen in Paris studiert. Nach Abschluss verteilt sie mit einer Kollegin Lehrmittel in Südamerika. Die Kollegin kehrt zurück, sie reist weiter. Nach Mexiko. Dort lernt sie ihren heutigen Mann kennen, einen Australier, der mit dem Velo unterwegs ist. Später besucht sie ihn in Sydney. Das erste Kind kommt dort zur Welt, in der Schweiz das zweite. Sie zeigt ihm nun ihre Heimat. Aus einem Abstecher werden viele Jahre. Noch heute wohnt die Familie im Rheintal, in Balgach, im eigenen, schönen Haus. Hier und auf der Hälfte eines Schrebergartens wächst, was Lototzky für ihre Sträusse und Kurse benötigt. «Die Blumen haben mich einfach in ihren Bann gezogen.»
Von den bunten Mosaiken zu den farbigen Blumen
Das passierte nicht von einem Tag auf den anderen. Eigentlich ist Lototzky seit dem Umbau des Hauses in Sydney Mosaizistin. Sie schafft Bilder und Möbel-stücke aus den bunten Splittern. «All diese Farben, wie bei den Blumen», sagt sie. Doch es schleichen sich immer mehr Blumenmotive in ihre Werke. Schliesslich pflanzt sie Blumen an, um sie zu studieren und besser abbilden zu können.
2017 lädt sie zum ersten Adventskranzkurs. Dieses Jahr stehen noch 20 Kurse an. Kurse für Gestecke und Blumenkronen sind dazugekommen. Lototzky vermisst manchmal die Zweisamkeit, nur die Blumen und sie. «Ich hatte keine Zeit mehr für die Musse und das Kreative.» Sie arbeitet nun zwei Tage ausserhalb ihres Ateliers, übersetzt französische Schriftstücke für die Firma Abacus. Sie schätzt ihre Lage: «Wäre ich als Floristin abhängig von meinem Blumengehalt, wäre es schwierig, die Slowflower-Prinzipien gewinnbringend zu leben.»
Sie pflanzt nur Formen und Farben an, die zu ihren Kunstwerken passen. «Ich mag gedeckte Nuancen», sagt sie. Sie gräbt Knollen aus, um sie zu überwintern, bestellt im Internet Samen, tauscht sie mit einer gleichgesinnten Kollegin, erhält gelegentlich schöne Sorten von ihrer Schwester in England. In Grossbritannien hat Lototzky mehrere Kurse belegt. Bei Buchautorin Lucy Hunter etwa.
Steckigel statt Steckmoos
Blumen halten nicht lange, sie sind kurzlebig. Lototzky sagt: «Sie zwingen mich, den Moment zu geniessen. Das tut mir gut. Ich verzettle mich gerne.» Sie arbeitet mit Steckigeln statt Steckmoos. «Letzteres enthält eine Menge Mikroplastik, das im Meer landet», sagt sie. Dazu Hasendraht, der den Blumen Halt gibt, Wasser und liebe Worte. «Ich rede mit meinen Blumen und frage sie, wie es ihnen geht.» Sie würden ihr als Dank «gute Energie» zurückgeben.
Bald kommt die schwierigste Zeit im Jahr für Lototzky. Der Winter, wenn die Fläche vor dem Haus brach liegt. «Auch ein Anfang», ermuntert sie sich selber. Sie verschenkt nun Sorten, die nicht ihrer Vorstellung entsprechen. «Besser, als sie wegzuwerfen.» Und sucht Neues, das zu ihrem Arrangementstil passt. Vielleicht findet sie Zeit, um einen Onlinekurs zu belegen. Bei Buchautorin Erin Benzakein von Floret’s Farm in den USA zum Beispiel. Oder sie fährt weg.
Im Frühling und Sommer verzichtet sie lieber darauf. Zu herrlich ist das bunte Feuerwerk, das aus ein paar Samen entstanden ist. Löwenmäulchen, Rittersporn, Phlox und Strohblumen zeigen sich dann von ihrer besten Seite. Doch auch im Frühling und Sommer gibt es Tage, an denen sich Lototzky überwinden muss. Es sind jene Tage, an denen sie den Haupttrieb neuer Pflanzen abschneidet. «Das braucht schon fast Mut.»
Und doch weiss sie unterdessen: Es kommt gut, die Pflanze wächst danach dichter. «Sonst wird das nichts mit vielen regionalen Blumen auf wenig Raum», sagt sie. Und streicht einer Dahlie dankbar übers Köpfchen.
Slowflower-Bewegung:
Nachhaltiger Blumenanbau – Gesichter und Geschichten. Haupt, 224 S., Fr. 46.–