28.10.2020

Äusserlich sieht man ihm nichts an

Der fünfjährige Simon aus Berneck leidet an einer unheilbaren Krankheit. Wie der Kindergarteneintritt dennoch gelang.

Von Christa Wüthrich
aktualisiert am 03.11.2022
Jedes Kind soll einen harmonischen Start ins Schulsystem erleben dürfen. Doch wie soll das gehen, wenn der Fünfjährige an einer unheilbaren Krankheit leidet, seine sprachliche und körperlich Entwicklung verzögert ist und Kind wie Eltern überfordert sind? Die Familie von Simon durchlebte genau diese Situation.Stolz zeigt Simon seine Kindergartentasche. Hellblau, verziert mit einer Kolonne aus Rettungsfahrzeugen. Der Fünfjährige ist fasziniert von all den Gefährten – ganz zu schweigen vom Traktor auf dem Bauernhof der Grosseltern oder seinem neuen Velo im Keller. Die kurzen blonden Haare sind verstrubelt, die blauen Augen blitzen spitzbübisch, wenn er begeistert von seinen Fahrzeugen erzählt. Simon scheint ein ganz normaler Junge zu sein, der ungeduldig dem Kindergartenbesuch entgegenfiebert. Wären da nicht die Schwierigkeiten, die richtigen Worte zu finden und sich altersgerecht auszudrücken, sich zu bewegen und zu spielen und wären da nicht die grossen Narben auf Simons Bauch.Im Babyalter den Darm entferntSimon leidet am Jirásek-Zuelzer-Wilson-Syndrom. Das ist eine angeborene schwerwiegende Erkrankung des Dickdarms. Schon kurz nach der Geburt von Simon wird klar, dass etwas mit seiner Verdauung nicht stimmt. Es folgen Biopsien, Operationen, künstliche Darmausgänge. Wegen den zwei Stomas kann sich Simon kaum bewegen oder drehen. Sitzen ist schwer möglich. Seine Muskulatur entwickelt sich entsprechend zögerlich. Sechs Monate nach der Geburt werden ihm operativ der komplette Dickdarm und ein Teil des Dünndarms entfernt. Nach Monaten im Kinderspital geht der Kampf gegen Gesässwunden, bakterielle Fehlbesiedlungen im Darm und Ernährungsprobleme weiter.«Heute haben wir uns mit Simons Krankheit arrangiert, wissen Anzeichen richtig zu deuten und entsprechend zu reagieren», sagt Mutter Gabriela. Spitalaufenthalte sind seltener geworden. Der Dünndarm hat viele der Funktionen vom fehlenden Dickdarm übernommen. Der Körper hat sich adaptiert. Ernährung und Pflege sind nun massgeschneidert auf Simons Bedürfnisse angepasst. Mutter Gabriela und Vater Roger suchen konstant nach alternativen Möglichkeiten, um Simons Wohlergehen und seine Entwicklung zu fördern. Eines der grössten Probleme bleibt die Eindickung des Stuhlganges. «Momentan wirken Flohsamenschalenkapseln sehr gut. Aber Simons Organismus ist in einem konstanten Wandel. «Was heute nützt, kann morgen wirkungslos sein», sagt Gabriela.Trotz Hindernissen: Simon entwickelt sich gut, isst gern und viel, am liebsten Chicken Nuggets. Der Fünfjährige trägt nur noch nachts Windeln und kann seit Kurzem sogar velofahren. Etwas, worauf er besonders stolz ist. Denn früher waren seine Gesässwunden so entzündet, dass er vom Sich-frei-Bewegen oder gar Velofahren nur träumen konnte.Frühe Unterstützung war nötig«Etwa eines unter 50000 bis 100000 Kindern leidet am Jirásek-Zuelzer-Wilson-Syndrom», sagt Roger. Meistens sei die Krankheit vererbt. In Simons Fall ist es jedoch eine Laune der Natur. Niemand in der Familie leidet an einer Darmkrankheit. Auch der grosse Bruder Gian- Nico und die kleine Schwester Lina sind körperlich gesund. Beide zeigen jedoch im Spracherwerb Schwierigkeiten – und auch Simon entwickelt sich in diesem Bereich nicht altersentsprechend. «Unser ältester Sohn erhielt für seine Sprachschwäche erst im Kindergarten Unterstützung. Für mich war klar, dass Simon in Kombination mit seiner Krankheit und dem verzögerten Spracherwerb früher Unterstützung braucht, um später den Kindergarten ohne grosse Probleme besuchen zu können», sagt Mutter Gabriela. Die Kinderärztin teilte diese Ansicht und stellte schon 2018 einen Antrag für Heilpädagogische Früherziehung – kurz HFE. Eine ausgebildete Heilpädagogin besucht das Kind und seine Familie zu Hause für eineinhalb Stunden pro Woche. Die HFE wird je nach Kanton vom Heilpädagogischen Dienst, von Sonderschulen, Stiftungen oder auch freischaffenden Fachpersonen   übernommen.In Simons Fall liegt der Fokus auf der Sprachentwicklung. Zusammen mit seiner Heilpädagogin setzt er Sonnenblumenkerne, backt Brot, geht einkaufen oder lernt, sich in Rollenspiele zu vertiefen. Objekte werden nicht nur berührt und benannt, sondern explizit in Prozesse eingebunden. Die Entwicklungsschritte des Fünfjährigen werden anhand von Tests analysiert und gefördert. Ist zusätzliche Unterstützung nötig – bei Simon sind dies im Moment Logopädiestunden – leitet die HFE-Expertin die nötigen Schritte ein.  «Vom Besuch der Heilpädagogin profitiert die ganze Familie», sagen Gabriela und Roger. «Für mich sind diese Inputs unglaublich wichtig. Sie zeigen mir auf, wo und wie ich Simon bewusst unterstützen kann. Zusätzlich schätze ich den Austausch mit einer Fachperson,» sagt Gabriela.Simons Start in den Kindergarten wurde für die ganze Familie zu einem grossem und wichtigen Schritt. Da ist Simon, der sich riesig auf den Kindergarten freut, doch immer klarer wahrnimmt, dass er anders als die gleichaltrigen Kinder ist. Im Sommer in der Badi schämte er sich für seine grossen Narben. «Gell Mami, mein Bauch ist kaputt!», flüsterte er seiner Mutter zu und versteckte sich vor den anderen Kindern und deren neugierigen Blicken unter das T-Shirt. Ins Wasser wollte er kaum mehr.Da ist die Schulgemeinde, die «gemischte Gefühle» über die Aufnahme «eines Kindes mit speziellen Bedürfnissen» in den Regelkindergarten zeigt; sich dann aber bewusst für Simon entscheidet. Zwar trägt er am Tag keine Windeln mehr. Doch die Kindergartenlehrperson müsste «im Notfall» Simon entsprechend säubern und umziehen.Zwischen Freude und UnverständnisUnd schliesslich sind da Simons Eltern. Sie haben Angst, falsch verstanden zu werden und ihrem Kind nicht die nötige Unterstützung zusichern zu können. «Von aussen sieht man Simon nichts an. Trotzdem braucht er das konstante Verständnis und auch die Rücksichtnahme von Schulkameraden, Lehrpersonen aber auch den anderen Eltern. Viele verstehen das nicht», sagt Roger. Die HFE-Heilpädagogin unterstützt die Familie auf Wunsch auch in solchen Situationen und ist bei Gesprächen mit Lehrpersonen und Schulleitung dabei.Simon hat in den letzten Monaten grosse Fortschritte gemacht. Er kann sich sprachlich besser ausdrücken, im freien Spiel lernt er eigene Ideen umzusetzen und Anregungen von aussen einzubeziehen. Trotzdem wird ihn der Regelkindergarten in vielen Punkten körperlich und geistig fordern. Die HFE-Betreuung wird darum während der gesamten Kindergartenzeit weitergeführt – so lange, bis Simon einen altersgerechten Entwicklungsstand zeigt. Gabriela und Roger sind dankbar dafür.Was hätten sie sich rückblickend zusätzlich gewünscht? «Unser Wunsch richtet sich nicht an ein Unterstützungsangebot oder eine Therapie, sondern an die Kommunikation und Information über bestehende Supportmöglichkeiten», betonen Simons Eltern. HFE sei ihnen nur ein Begriff gewesen, weil der ältere Sohn im Kindergarten davon profitierte habe. «Ohne diese Erfahrung hätten wir dieses Angebot nicht gekannt – und Simon hätte nie diese Betreuung erhalten.»Die KrankheitDas Jirásek-Zuelzer-Wilson- Syndrom ist eine Variante von Morbus Hirschsprung. Den Betroffenen fehlen von Geburt an Nervenzellen im Enddarm / Dickdarm, was zu Stuhlentleerungsproblemen führt. Das betroffene Stück Darm wird operativ entfernt. Das Syndrom ist nach den Ärzten Zuelzer, Wilson und Jirásek benannt.So hilft der FördervereinDer gemeinnützige Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten (KMSK) setzt sich in der Schweiz für rund 350 000 betroffene Kinder und Jugendliche sowie deren Familien ein. Mit finanzieller Direkthilfe konnte der Verein seit der Gründung im Jahr 2014 mehr als 800 000 Franken Spendengelder an betroffene Familien auszahlen. Letztes Jahr wurden 2200 Familienmitglieder zu kostenlosen KMKS-Familienevents eingeladen. Ein weiterer Punkt ist die Öffentlichkeitsarbeit: Von den drei KMSK-Wissensbüchern «Seltene Krankheiten» wurden 31 600 Exemplare kostenlos versandt.

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