Als ich mich vor Jahren einmal in Taiwan in einem (unbedeutenden) buddhistischen Tempel aufhielt, blieb ich vor einer Statue stehen, weil sie mir nicht viel zu sagen vermochte. Ich erfuhr, sie verkörpere einen Heiligen, der in einer wichtigen Schlacht gekämpft und den Sieg herbeigeführt habe. Nun, dachte ich, Kriege haben ihre Helden und ihre Heiligen. Ist es in unserer Kultur anders? Diese und ähnliche Erfahrungen regten mich an zu einem Nachdenken über die «wahren» Heiligen.Die vielen Menschen in meinem Alltag, sie sind alle sehr unterschiedlich. Diese Vielfalt sei wichtig für die Gesellschaft. So steht es in den Büchern. Wo es aber um Heil und Heiligkeit geht, da muss ich in der Kirche nachfragen oder die Bibel aufschlagen: Gott ist das Heil, lese ich da. Heil sein, bedeutet ganz sein. So ist Gott in seiner Ganzheit auch der Heilige. Glaubenssache? Ansichtssache? Glaube «sitzt» tiefer.Wenn ich als denkender Mensch in der Dunkelheit des Abends einen meditierenden Blick ins Universum werfe, dann steigen Fragen auf: Wie ist das alles geworden? Wer oder was stand am Anfang dieser Entwicklung? Das Nichts? Oder die Fülle? Fällt Sternenstaub zurück ins Nichts oder bleibt er erhalten, indem er sich wandelt? Meine Fragen bleiben unbeantwortet, ausser die Naturwissenschaft kommt mir zu Hilfe. Sie weiss: Im grossen Universum geht nichts verloren; alles ist Verwandlung. Doch mit einem Beweis für die Existenz Gottes ist sie überfordert. Das sagt auch der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr, gleichwohl fügt er hinzu: Hinter allem muss Liebe stehen. Wahre Liebe zerstört nicht, sie macht heil. Das weiss auch die Bibel. Ohne in ihren Geschichten das zerstörerisch Böse auszulassen, sagt sie: Gott ist die Liebe. Texte der Bibel geben uralte menschliche Erfahrungen wieder. Zur Heiligkeit – so meine ich – gelangen all jene Menschen, die in sich selbst den heilen Kern, die Liebesspur ihres Schöpfers erahnen und auf dieser Spur ihr Leben gestalten. Auf ihren Gräbern erblühen neben den Rosen die stillen Gebete der Menschen in ihrer Sehnsucht nach Heil sein. Und in den Heiligsprechungsprozessen aussergewöhnlicher Menschen tritt etwas Ähnliches zutage: Unsere Sehnsucht nach dem heilen, heiligen Leben, nach der heilen Welt – schon jetzt, nicht erst im Jenseits.Ingrid Grave
Dominikanerin in Ilanz