29.04.2022

Aus christlicher Sicht: Gottes Vorstellung von Gerechtigkeit ist seltsam

Der 1. Mai fällt dieses Jahr auf einen Sonntag. Er ist der Tag der Arbeiterbewegung. Im Jahr 1886 rief eine nordamerikanische Arbeiterbewegung zum Generalstreik auf.

Von Armin Scheuter, Pfarreibeauftragter in Kobelwald
aktualisiert am 02.11.2022
Sie wollte den Achtstundentag durchsetzen. Ab dem 1. Mai folgte ein mehrtägiger Streik in Chicago und führte am 3. Mai schliesslich zu einer gewalttätigen Ausei­nandersetzung zwischen De­monstrierenden und der Polizei. Zwei der Demonstrierenden wurden getötet. In einer Chicagoer Fabrik für landwirtschaftliche Geräte erklärte sich die Mehrheit der Arbeitenden solidarisch. Sie war mit dem Zwölf-Stunden-Tag bei einem durchschnittlichen Verdienst von drei US-Dollar pro Tag unzufrieden. Schaut man nach, was die Bibel zum Thema «Gerechter Lohn» zu sagen hat, trifft man schnell auf das Gleichnis Jesu von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20, 1f). Darin beklagt sich eine Gruppe, die acht Stunden gearbeitet hatte, dass alle Ar­beitenden den gleichen Lohn bekommen sollten, obwohl sie unterschiedlich lang dafür arbeiten mussten. Jedoch war die erste Gruppe zu Beginn des Tages durchaus einverstanden, als mit ihnen ein Denar als Tageslohn vereinbart worden war. Ein Denar war damals jene Summe, die ein Arbeitender verdienen musste, um seine Familie einen Tag lang über die Runden bringen zu können.Zurecht, denken wohl auch wir, wird von ihnen die Frage nach der Gerechtigkeit gestellt. Da sie für den Denar immerhin sechs Stunden länger schuften mussten, als diejenigen, die zuletzt eingestellt worden waren. Am Schluss des Tages werden sie deshalb vom Weingutbesitzer zurückgefragt: «Darf ich denn mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will? Oder ist dein Auge böse, weil ich gut bin?»Der Gutsbesitzer begründete sein, in den Augen der Arbeitenden, seltsames Handeln mit der Rückfrage nach der Barmherzigkeit. Nur gerecht zu handeln, reicht nicht aus, um jedem Einzelnen gerecht zu werden. Damit stellte er uns allen die Frage: Wie gerecht und barmherzig ist unsere Gesellschaft?Darum geht es Jesus wohl: Barmherziges Handeln wendet sich empathisch dem anderen Menschen, seiner Not und seinen Bedürfnissen vorbehaltlos zu. Barmherzigkeit will nicht nur der Situation des anderen gerecht werden, sie anerkennt darüber hinaus, dass jeder Mensch hinsichtlich seiner Lebensgestaltung besonders ist und ein eigenes Begehren hat. Barmherzigkeit vollzieht sich gesellschaftlich im Dialog und in der Auseinandersetzung mit der Selbst- und Weltdeutung des anderen. Nehmen wir doch die Fragen des Gleichnisses als einen christlichen Beitrag zu der – auf den ersten Blick – seltsamen Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle.

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