19.06.2020

Aus christlicher Sicht: Echo der Berge

Eine weise Frau reiste in die Berge zum Wandern. Sie fand in einem Bachlauf einen wertvollen Stein und hob ihn auf, hielt ihn bewundernd ins Licht und steckte ihn schliesslich in ihre Tasche.

Von Georg Changeth
aktualisiert am 03.11.2022
Bald darauf traf sie einen Wanderer. Sie sah, dass der Mann hungrig war und bot ihm etwas zu Essen an. Sie öffnete ihre Tasche, um das Brot mit ihm zu teilen. Dabei sah der Wanderer den wertvollen Stein. «Gib mir den Stein», bat er. Ohne zu zögern reichte sie ihm den Stein. Er ergriff ihn, machte sich schnell davon, denn ihm war klar, dass der Stein sehr wertvoll war. Die Frau blickte ihm staunend nach. Sie fragte sich: «Hatte er nicht nach Brot verlangt, nun ist er mit einem Stein zufrieden?»Kurze Zeit später kam der Mann jedoch zurück zur weisen Frau und gab ihr den Stein wieder. «Ich habe nachgedacht», sagte er. «Ich weiss, wie wertvoll dieser Stein ist. Aber ich gebe ihn dir zurück. Das tue ich in der Hoffnung, dass du mir etwas viel Wertvolleres dafür schenken kannst. Bitte gib mir etwas davon, was es dir möglich machte, mir ohne Zögern diesen Stein zu schenken.»Hier stellen wir eine Änderung des Blickwinkels fest. Die Frau genoss ihre Wanderung und hing nicht am wertvollen Stein; sie war bereit, mit einem Hungrigen zu teilen. – Der Mann wollte zuerst unbedingt den wertvollen Stein besitzen, entdeckte dann aber das Herz der Frau, gab den Stein her und wünschte sich, so zufrieden zu sein wie sie.Der verstorbene Bischof Reinhold Stecher aus Innsbruck hat in seinem Buch «Botschaft der Berge» geschrieben: «Die Berge laden uns ein, achtsam zu sein, auf den Stein, die Blume am Wegrand, den Gesang der Vögel. In den Bergen müssen wir Rücksicht auf andere nehmen, die laute Welt lassen wir zurück. Durch die tiefere Atmung können wir unseren Alltagsstress loslassen und für eine gewisse Zeit vergessen. Das ist die Therapie der Berge, weil die Berge uns Wichtiges zu sagen haben.»Das Echo der Berge zeigt uns das Wesentliche im Leben, dass wir nicht glitzernde Steine des Wohlstands brauchen, um wahrhaft glücklich zu sein. Nein, wir können mit einfachem Brot und klarem Wasser glücklich sein. Die Zeit der Entbehrungen jetzt in der Krisenzeit lehrt uns, das einfache Brot, die Achtsamkeit und Liebe wieder zu entdecken. Dabei sollen auch wir unseren Blickwinkel auf Menschen richten, die uns brauchen.Der Wanderer wollte von der Frau wissen, was es ihr so leicht macht, den glitzernden Stein einfach loszulassen. Es ist das Wissen um etwas viel Grösseres, was uns am Ziel unseres Lebens erwartet. Es ist das Glück, teilen zu können, ohne rechnen und zählen zu müssen. Das ist wie ein Echo der Berge, wenn wir es hören, erzählt es uns eine grosse Lebensweisheit.Georg ChangethKaplan in Widnau

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