08.11.2019

Aus christlicher Sicht: Die Quelle sprudelt

Aus einer Ecke schleicht sich eine Frau an den Brunnen. Dort sitzt Jesus. Sie schaut ihn nicht an. Am liebsten wäre sie wieder zurückgegangen. Sie beeilt sich, möchte sich unsichtbar machen. Da sagt Jesus: Gib mir zu trinken! Sie erstarrt. Hat sie richtig gehört? Der Unbekannte spricht sie an. Und nicht nur das: Er bittet sie, die unreine Samaritanerin aus dem fremden Volk um etwas zu trinken!

Von Manuela Schäfer
aktualisiert am 03.11.2022
«Also dann», sagt sich die Frau. Sie blickt ihn an. «Du weisst schon, wer ich bin?» – «Ja», sagt Jesus, «und ich bitte dich um etwas zu trinken.» Die Frau schöpft langsam mit ihrem Eimer aus dem Brunnen das Wasser. – «Aber du weisst nicht, wer ich bin», sagt Jesus. «Denn sonst würdest du mich um das Wasser bitten, das den Durst nach Leben stillen kann.»Die Frau stutzt. «So einfach ist das alles nicht», sagt sie. Der Brunnen ist tief. Tief sitzt die Sehnsucht nach Anerkennung, nach innerem Frieden, nach Heimat, nach Rettung. Bei ihr und bei allen Menschen. Unendlich weit nach unten reicht der Brunnen – und wenn man sich hinüberbeugt, sieht man ganz in der Ferne das Wasser glitzern. Er weiss wirklich nicht, wer ich wirklich bin, denkt die Frau. Fünf Männer sind ihr davongelaufen. Keiner hat ihren Durst gestillt. Die nimmt jeden, sagen die im Dorf. Eine Weile lang sitzen Jesus und die Frau nebeneinander und reden über Wasser. Über das, was sie trinken, und über das, wonach sich jeder Mensch sehnt, der Durst nach tiefstem Angenommensein. Die Wassertropfen fliessen aus dem Becher wie die Gedanken. Endlich, denkt die Frau. Jemand redet mit mir über meine tiefsten Fragen, über das Leben und den Tod. Und es ist ihr, als ob tief in ihrem verkrusteten Inneren eine Quelle aufbricht. Für alle Zeiten wird sie verbunden sein mit diesem Jesus.Da kommen die Jünger. Jesus fragt sie: «Wo wohnt die samaritanische Frau in euren Dörfern?» Sie schauen ihn irritiert an. Bei ihnen wohnt keine Frau aus Samarien! Obwohl – es gibt da schon jemand, denkt jeder im Stillen für sich, argwöhnisch beäugt, einen Sonderling, eine Fremde, einen Andersdenkenden. Ausgeschlossen sind sie nicht wirklich, aber sie leben auch nicht wirklich mit uns, sondern aneinander vorbei, wie mit einer unsichtbaren Grenze.«Ich gehe zurück ins Dorf und erzähle allen von dem, was du mir gegeben hast», sagt die Frau. «Nie wieder wird für mich Wasser einfach Wasser sein. Es hat sich mit deinen Worten verbunden. Sie haben für mich Leben gebracht.»Alltägliches wird heilig. Himmlisches wird irdisch. Sie fühlt in sich hinein. Die Quelle sprudelt.Manuela SchäferPfarrerin in Berneck

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