18.06.2022

«Auf der Expedition gilt es, kreativ zu sein»

So bereitet sich die junge Ostschweizer Bergsteigerin Annik Länzlinger auf eine einmonatige Expedition in Grönland vor.

Von Tabea Leitner
aktualisiert am 02.11.2022
Tabea LeitnerMitte Juni wird Annik Länzlinger gemeinsam mit fünf anderen Frauen des Expeditionsteams des Schweizer Alpenclubs (SAC) und einem Fotografen nach Nuuk, der Hauptstadt von Grönland, fliegen. Während eines Monats werden die Bergsteigerinnen nach neuen Routen an unbekannten Bergen suchen.«Der Traum ist eine Erstbegehung», so die Algetshauserin. Das sei aber eher eine utopische Vorstellung, denn Grönland sei vor allem bei Berggängerinnen und Berggängern aus nordischen Ländern ein beliebtes Ausflugsziel. Und nicht alle Pioniere würden ihre Erstbesteigung veröffentlichen. «Das realistischere Ziel ist es, einen Gipfel zu besteigen, auf dem weniger als 100 Personen waren», sagt die 22-Jährige und lacht.Innerhalb von drei Jahren an die nationale SpitzeSeit 2019 ist Annik Länzlinger Teil des weiblichen Expeditionsteams des SAC, das sich aus sechs Frauen im Alter zwischen 20 und 25 Jahren zusammensetzt. Während einer zweijährigen Ausbildung haben die jungen Berggängerinnen mit einem Bergführer die alpinen Fertigkeiten für ihr gemeinsames Ziel erlernt.Den Bergsport hat Annik Länzlinger erst mit 16 Jahren für sich entdeckt. Als sie damals mit dem Sportklettern begann, hat eine Teamkollegin sie dazu überredet, mit der Jugendorganisation (JO) des SAC St.Gallen auf eine Hochtour mitzugehen. «Der Tourenleiter war damals selbst im Expeditionsteam des SAC. Seine Erzählungen vom Leben in der Wildnis haben mich sofort gepackt», sagt sie. Von da an war für sie klar, dass sie selbst einmal Teil des Expeditionsteams sein möchte. So hat sie während der Kanti manche Schulstunden ausfallen lassen, um in den Bergen unterwegs zu sein: «Die Zeit in der Natur und das Bergsteigen bedeuten pure Freiheit für mich. Ich könnte tagelang gratklettern.»Zudem hat die 22-Jährige intensiv in der Kletterhalle an ihrer Klettertechnik gearbeitet und ist häufig mit dem SAC auf Hochtouren gegangen. Denn ins Expeditionsteam gelangt nicht jeder Amateur-Bergsportler. Die Kandidatinnen mussten sich an einer Eintrittsprüfung im Sport- und Eisklettern sowie in Skitouren gegenüber der nationalen Konkurrenz beweisen. Mit der Aufnahme ins Expeditionsteam 2020 ging für die Algetshauserin ein Traum in Erfüllung. «Nie hätte ich damit gerechnet, dass ich es schaffe», gesteht sie.Auf sich allein gestelltWährend der letzten zwei Jahre hat sich das Expeditionsteam bis zu zwei Mal im Monat für Workshop-Wochenenden getroffen. Seiltechnik und Bergrettung muss man im Griff haben, bevor man vor den unberührten Berg tritt. Eine seriöse Vorbereitung ist wichtig, denn das Bergsteigen auf der Expedition wird sich deutlich von jenem in den Schweizer Alpen unterscheiden. Zum einen gebe es in der Schweiz kaum so schroffe Felswände wie in Grönland, zum anderen kenne man die Unberührtheit der Natur im Schweizer Bergsport nicht mehr wirklich.«Wir sind es uns gewohnt, dass in den Felswänden überall bereits Bohrhaken installiert wurden, wo man das Kletterseil zur Sicherung einklinken kann. Auf der Expedition müssen wir kreativ sein und selbst Sicherungseinrichtungen bauen», so die 22-Jährige. Dazu benutzen die jungen Frauen Keile und Klemmgeräte, die man in Felsspalten einhaken kann. Ausserdem seien es sich die Berggängerinnen nicht gewohnt gewesen, neue Routen im Berg zu suchen. Die Sportstudentin sagt: «In der Schweiz gibt es zu jeder Bergtour eine Beschreibung, die einen auf Schlüsselstellen und Gefahren hinweist und die Route genau vorschreibt.»Die Bergsteiger-Ausbildung habe deshalb grösstenteils daraus bestanden, abends vor der Berghütte mit dem Feldstecher die Tour für den nächsten Tag im Berg zu suchen. Ohne auch nur einmal einen Blick in den Touren-Guide zu werfen. Jedoch sei das Hochkommen nicht die grösste Challenge auf der Expedition. Annik Länzlinger erklärt: «Du musst dir sicher sein, dass du mit dem Material, das du an deinem Klettergurt hast, auch wieder herunterkommst.» Aber nicht nur aus diesen Gründen waren regelmässige Treffen in den letzten zwei Jahren lehrreich. Es sei essenziell, dass man die Stärken und Schwächen seiner Begleiter gut kenne. Nur so sei es möglich, abzuschätzen, ob eine Route als Team begehbar ist oder nicht. Kein Rega-Helikopter in GrönlandTrotz des Funktelefons, das die jungen Frauen mit sich tragen werden, müssten sie im Notfall selbst handeln können. «In Grönland gibt es keine Rega, die einen aus dem Gelände retten könnte. Wenn sich jemand verletzt, müssen wir die immobile Person selbst vom Berg herunterbringen», sagt die Algetshauserin. Es sei eine grosse zwischenmenschliche Herausforderung, rechtzeitig zu sagen, wenn man am Limit läuft. Gerade weil sich vorher niemand gekannt hatte. «Plötzlich waren wir regelmässig bis zu 14 Stunden auf einer Tour und haben zusammen Grenzerfahrungen gemacht. Das sind Erlebnisse, die man mit Schulkolleginnen nicht macht», sagt die Sportstudentin.Ob Annik Länzlinger Angst hat, wenn sie an die Expedition denkt? «Wir haben ein Gewehr dabei, um uns gegen Eisbären verteidigen zu können. Die Wildnis macht mir also keine Angst», sagt sie und lacht. Für die 22-Jährige ist es nach eigenem Bekunden kein Unterschied, ob sie in Grönland oder in den Schweizer Alpen klettern geht. Sie sei sich der Risiken beim Bergsport bewusst.Es gebe viele Situationen in den Bergen, in denen sie sich fürchte. «Das gehört dazu. Durch die Angst erkennt man erst die Gefahren und kann sein Verhalten dementsprechend anpassen», sagt Annik Länzlinger. Letztens sei sie bei einer Skitour in einer steilen Traverse den Hang hinuntergerutscht und konnte nicht mehr bremsen. In diesem Moment habe sie realisiert, wie schnell es gehen könne. Doch sie male sich selten aus, was alles geschehen könnte. «In den Bergen spüre ich, dass ich lebe. Da gehört die Angst einfach dazu», sagt sie.Der Leistungsdruck ist für Annik Länzlinger die grössere mentale Herausforderung. Neben dem Studium investiert sie ihre ganze Freizeit in die Vorbereitungen. Egal, ob Radfahren, Klettern, Skitouren oder Joggen – für die Sportstudentin ist es wichtig, auf der Expedition leistungsfähig zu sein. «Jetzt bin ich in einem Team, in dem andere Ansprüche an mich haben», sagt sie.Kein Akklimatisierungstraining, mehr Zeit am BergDie Planung des Zielgebirges in Grönland ist anspruchsvoll. Die Landkarte von Grönland ist im Massstab 1 : 100 000 geschrieben. Zum Vergleich: In der Schweiz sind sie im Verhältnis 1 : 25 000 gedruckt. Mit den grönländischen Karten erkenne man sofort, wo es grössere Erhebungen der Erdmasse gibt. «Mit Hilfe von Google-Satellitenfotos konnten wir das Gebirge dann etwas präziser analysieren. Jedoch wissen wir immer noch nicht genau, welche alpinen Bedingungen uns vor Ort erwarten werden», erklärt Annik Länzlinger.Doch wieso Grönland? «Aufgrund der Höhenlage», sagt Annik Länzlinger. In Grönland starten die Touren auf Meereshöhe, während die höchsten Gipfel auf etwa 2000 Metern liegen. «Das heisst, dass der Sauerstoffgehalt der Luft nicht drastisch abnimmt. So haben wir mehr Energie für das Bergsteigen», sagt die Sportstudentin. Auch muss das Team dadurch kein Akklimatisierungstraining machen und kann den Grossteil des Monats ins Bergsteigen investieren.Die Energie sorgfältig einteilenDie Geografie Grönlands hat einen weiteren Vorteil: «Falls wir an einem Standort erfolglos sind, können wir unser Gepäck einfach auf ein Schiff verfrachten und in einem anderen Fjord unser Glück versuchen», erklärt Annik Länzlinger. Eine sorgfältige Einteilung der Energien hat oberste Priorität für die Sportstudentin. «Ich stosse manchmal bereits an den Übungswochenenden an meine körperlichen Grenzen. Ich weiss nicht, wie es mir nach einem Monat Expedition und Schlafen in der Wildnis körperlich gehen wird», sagt Länzlinger. Um der Erschöpfung etwas entgegenzuwirken, sei der Transport mit dem Schiff ein wahrer Segen. Denn es kommt viel Gepäck zusammen.Das braucht es für eine ExpeditionIn Nuuk angekommen, werden die sechs jungen Frauen erstmals den ganzen Proviant für den folgenden Monat einkaufen. Pro Person rechnet Annik Länzlinger mit rund 46 Kilogramm Gepäck. Kletter- und Gletscherausrüstung – die Frauen müssen für jegliche alpinen Verhältnisse gerüstet sein.Zur alpinen Ausrüstung kommt noch das Material hinzu, welches das Team für die Errichtung des Basecamps braucht. Das Basecamp ist ein Lager für Kleidung, Tourenmaterial und Essen, wo das Expeditionsteam in den ersten Nächten schlafen und von wo aus es die Touren starten wird.Granit und Wetterprognose – die finalen VorbereitungenBevor es losgeht, werden sich die Frauen noch einmal für eine Kletterwoche treffen. In diesen Tagen werden sie intensiv am Granitfelsen trainieren, da dies die vorherrschende Gesteinsart in Grönland ist. «Es ist wichtig, dass wir das Gefühl für den Stein mitnehmen», sagt Annik Länzlinger. Doch es gebe auch noch viel Kleinkram zu erledigen. Die Frauen müssen zum Beispiel noch jemanden organisieren, der ihnen die Wetterprognosen von Grönland zustellen wird. «Wir haben keine Internetverbindung auf der Expedition, deshalb muss uns jemand per Funktelefon fortlaufend über das Wetter informieren», sagt Annik Länzlinger.Trotz des Stresses freut sie sich auf das Abenteuer. «So eine Chance werde ich in meinem Leben wahrscheinlich kein zweites Mal haben!»

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