03.12.2020

Auf dem Weg in ein Leben ohne Kinder

Kinderlos glücklich sein – geht das? Zwei Rheintalerinnen erzählen von ihren Erfahrungen und von den Höhen und Tiefen.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
«Ich wollte schon immer eine Familie gründen», sagt Sarah Klein aus Marbach. Bereits beim ersten Date im 2013 habe sie ihren Mann darauf angesprochen. Doch nach über 36 Zyklen, wo sich Hoffnung und Enttäuschung abwechselten, teilte ihr diesen Sommer ihre Frauenärztin mit, dass eine natürliche Schwangerschaft einem Wunder gleichen würde.«Ich habe seit Jahren gesagt, dass meine Tochter einmal Ella heissen wird», sagt Annina Ott aus Heerbrugg. Doch nachdem sie die Pille abgesetzt hatte, stellte sich Ende 2018 heraus, dass sie in den vorzeitigen Wechseljahren ist und keine Kinder kriegen kann.Sich vom Kinderwunsch verabschiedenAls Sarah Kleins Frauenärztin ihr nach schwierigen Jahren mit erfolglosem Üben, zweier Inseminationen (Spermienübertragungen) und viel persönlicher Energie unmissverständlich klar machte, dass eine natürliche Schwangerschaft nicht funk­tionieren würde, habe es bei ihr plötzlich klick gemacht. «Wir mussten entscheiden, mit künstlicher Befruchtung oder Adoption weiterzumachen oder kinderlos zu bleiben», sagt die 35-jährige Marbacherin. Der Entscheid fiel schnell. Jetzt fange der Prozess erst an, sich vom Kinderwunsch zu verabschieden. Dafür hat sich die Leiterin eines Innovationsteams im Lebensmittelbereich Unterstützung einer Therapeutin geholt. «Ich würde mich als glücklich bezeichnen, auch wenn nicht immer zu 100 Prozent», sagt Sarah Klein, dafür brauche es noch eine Weile.«Anfangs fiel es mir schwer, die Realität laut auszusprechen», sagt Annina Ott (Bild oben), «ich bin nicht immer glücklich, aber immer zufrieden.» Zuerst wollte die 36-jährige Versicherungsfachfrau das Ergebnis des Arztes nicht wahrhaben und holte diverse Zweitmeinungen ein. Innerlich habe sie in dieser Zeit begonnen, sich mit der Situation auseinanderzusetzen und sie zu akzeptieren: «Alles geschieht aus einem Grund», sagt Annina Ott – auch wenn sie den Grund bisher noch nicht kenne.Nichts mehr müssen, sondern nur noch dürfenFragen wie: «Was ist der Sinn des Lebens?», «Was mache ich jetzt mit meinem Leben?», beschäftigen die beiden Frauen noch heute. «Ich habe mich lange nicht als vollwertig empfunden ohne Kinder», sagt Sarah Klein. Gemeinsam mit ihrem Mann seien sie daran, ihr neues Lebenskonzept zu schreiben: Nichts mehr müssen, sondern nur noch dürfen. Ohne irgendwelche Verpflichtungen. Das sei auch sehr schön. «Wir haben das Leben mehr schätzen gelernt», sagt die Marbacherin (Bild unten), «da ist keine Uhr mehr, die tickt und sagt: ‹Jetzt musst du›». Der persönliche Druck, qualvolle Gedanken, Versagensängste und das Gefühl, unvollständig zu sein, wichen ebenso wie der Kinderwunsch und eröffneten neue Perspektiven.«Weshalb ich?», «Was habe ich falsch gemacht?», sind Fragen, die immer seltener im Kopf von Annina Ott herumschwirren. «Im Hier und Jetzt bin ich glücklich mit meinem Leben. Aber sobald ich an die Zukunft denke, wird mir mulmig», sagt die 36-jährige Heerbruggerin. Trotz allem könne ein Leben ohne Kinder auch Vorteile haben. Sie könne tun und lassen, was sie möchte, ausserdem warten bereits Pläne auf die Umsetzung: Die Weiterbildung zur Versicherungsfachfrau abzuschliessen, ein Instrument zu lernen, sich eine weitere Fremdsprache anzueignen, ein Haus mit grossem Garten zu kaufen und auf Reisen zu gehen.«Was mir aber auch viel bringt, ist Menschen zu helfen», fügt Annina Ott hinzu. Eine Zeit lang habe sie eine ältere Dame im Altersheim besucht, in Zukunft möchte sie Kinder im Spital aufsuchen.Was darf man fragen und was lieber nicht?«Für viele Menschen ist es schwierig zu wissen, wie damit umzugehen ist», sagt Sarah Klein. Soll man Mitleid haben? Was dürfe man fragen und was lieber nicht?«Sowohl gewollte als auch ungewollte Kinderlosigkeit sind leider immer noch ein Tabu in unserer Gesellschaft», sagt Annina Ott. Man begegne oft Frauen, die gerade geboren haben und glücklich sind – es ist ja auch das Natürlichste auf der Welt. Dass es immer öfter Frauen gibt, die keine Kinder bekommen können, darüber denken die wenigsten nach. Die Menschen reagierten meist gleich. Konfrontiert mit dieser Realität, reagierten viele Menschen erschreckt und entschuldigten sich mehrmals, dass sie überhaupt gefragt haben. Es sei hilfreich, offener über dieses Thema zu sprechen, auch wenn es nicht leicht fällt, sagen beide ungewollt kinderlosen Frauen.Viele in ihrem Umfeld würden die ungewollte Kinderlosigkeit jetzt über den Zeitungsbericht erfahren. «Ich bin gespannt auf die Reaktionen und wünsche mir einen offenen Austausch», sagt Sarah Klein. Nachgefragt«Um sich ganz Frau zu fühlen, muss frau nicht Mutter werden»Muss die gewollte Kinderlosigkeit oder das ungewollte Ausbleiben einer Schwangerschaft zwangsläufig zu einem unvollständigeren Leben führen? Keineswegs, findet Regula Simon, die kinderlose Paare auf ihrem Weg begleitet.Frau Simon, haben Sie früher schon gewusst, dass Sie kinderlos bleiben wollen?Regula Simon: Nein. Den grössten Teil meines Lebens hatte ich die Vorstellung, ich würde –wenn ich mich denn einmal erwachsen genug fühle und den passenden Mann getroffen habe – Kinder haben.Wie ist es dann anders gekommen?Ende 30 begann ich daran zu zweifeln, dass sich meine Vorstellung noch verwirklichen würde. Erstaunlicherweise fand ich das nicht besonders tragisch. Ich fragte mich, ob die Vorstellung von mir als Mutter ein übernommenes Bild ist, das nicht meinen eigenen Wünschen entspricht. Als eine Freundin schwanger wurde, stimmte mich dies traurig. War das ein Hinweis darauf, dass ich vielleicht doch einen unbewussten Kinderwunsch verdrängte? Dieser Frage ging ich auf den Grund und fand heraus, dass ich vielmehr um die Freundschaft trauerte. Der passende Mann, den ich mit gut 40 traf, wusste, dass er nicht Vater werden will. Damit beseitigte er meine Ambivalenzen. Von da an konzentrierte ich mich auf die Vorteile des Lebens als OK-Frau.Wieso ist Kinderlosigkeit kein trauriges Schicksal?Statt «Wieso» müsste man fragen «Wann»: Es braucht die entsprechende Haltung. Wenn man sich sehnlichst ein Kind wünscht und überzeugt davon ist, dass man ohne nie glücklich werden kann, ist es ein trauriges Schicksal. Wenn ich eine Frau dabei begleite, von der Trauer zurück in die Lebendigkeit und Zufriedenheit zu kommen, gehen wir der Essenz des Kinderwunsches auf die Spur und finden heraus, welches Bedürfnis sie sich durch die Mutterschaft zu erfüllen hofft. Das weitet den Fokus und ebnet den Weg, diesem Bedürfnis auf andere Weise gerecht zu werden. Mit dem Verstand ist das schwer zu machen, da hilft weder Verdrängen noch Ablenken und es braucht die Bereitschaft, in den Schmerz einzutauchen. Erst danach kann man die Vorteile sehen, die das Leben ohne Kinder bietet: Man hat mehr Zeit für sich, seine persönliche Entwicklung, die Partnerschaft und steht finanziell weniger unter Druck. Insgesamt bedeutet das mehr Selbstbestimmung. Um sich ganz Frau zu fühlen, muss frau nicht Mutter werden.Ist es in unserer Gesellschaft ein Makel, kinderlos zu sein?Tatsächlich wird es – oft unterschwellig – als solcher angesehen. Besonders unfreiwillig Kinderlosen wird in unzähligen alltäglichen Momenten stets von Neuem vor Augen gehalten, dass ihnen etwas fehlt: Die Werbung, die das Bild der Familienidylle nutzt, die Gesprächsthemen unter Frauen, die Geburtsanzeigekärtchen, die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen nach Kindern befragt werden. Das ständige Nachfragen bei Paaren, wann es denn bei ihnen so weit ist oder das Ermahnen kinderloser Frauen, es sei allmählich Zeit (von Verwandten, Bekannten und Gynäkologen).Ist es ein Tabu? Und wie kann man es brechen?Auch wenn viele das Gegenteil behaupten: Ja, es ist ein Tabu. Das erlebe ich immer wieder, weil ich offen darüber rede. Ich höre es in den Aussagen der Frauen und Männer, die ich als Coach begleite oder die sonst mit mir über das Thema reden möchten.Wo sind die Männer in dieser Debatte um Kinderlosigkeit?Am Rande. Kürzlich hörte ich einen 43-jährigen Mann sagen: «Ich habe noch keine Kinder.» Es schien ihm selbstverständlich, dass ihm das noch offen steht. Eine Frau muss sich schon in den Dreissigern Gedanken machen. Ausserdem sind Männer nach wie vor weniger involviert, egal, ob es um das Machen der Kinder geht oder um ihre Betreuung. Die wenigen Männer, die sich mit ihrer Kinderlosigkeit schwertun, sind daher noch viel mehr im Tabu als Frauen.Welche Rolle spielt der Staat beim Thema Familienplanung?Eine problematische: Unser Rentensystem braucht Nachwuchs. Manche Staaten gehen daher schon so weit, dass sie im grossen Stil fürs Kinderkriegen werben oder Kinderlose finanziell zu benachteiligen versuchen. Dass man hierbei die Augen vor der Tatsache der Überbevölkerung total verschliesst, kann ich nicht nachvollziehen.Regula Simon, Coach und systemische Beraterin.

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