15.10.2021

Auch auf der Flucht spielte Rheinecks neuer Topstürmer Fussball

Rohollah Afkari, 17-jährig, mischt seit diesem Sommer die Rheintaler Fussballszene auf. Rheinecks Torschützenkönig kommt aus Afghanistan.

Von Remo Zollinger
aktualisiert am 03.11.2022
Auf der Widnauer Aegeten läuft die 14. Minute, als Rohollah Afkari den Ball bekommt. Durch eine geschickte Bewegung entledigt er sich seines routinierten Gegenspielers, legt sich den Ball zurecht und schliesst ab. Er trifft mit einem satten Schuss die Lattenunterkante, von wo aus der Ball zurück ins Feld springt. Der Stürmer regt sich kurz auf, hängt sich dann aber wieder voll rein. Es ist eine Szene, die das Wesen des 17-jährigen Angreifers des FC Rheineck gut beschreibt.«In meinem Leben habe ich gelernt, nie aufzugeben und immer weiterzukämpfen», sagt er. Zum Gespräch in Rheineck, das vor dem Donnerstagstraining seiner Mannschaft stattfindet, kommt er auf die Minute pünktlich.Im Iran aufgewachsen, dann in Afghanistans U18-NatiDer Weg von der Marienburg in Thal, wo er als unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter wohnt, ist kurz. Mahdi Mirzai begleitet ihn; er lebt schon länger in der Deutschschweiz und übersetzt das Gespräch. Der Jugendliche tut das mit einer beachtlichen Ruhe, unterhält sich mit Afkari in Persisch.Das hat zwei Gründe. Einer ist: Rohollah Afkari lebt erst seit fünf Monaten in der Deutschschweiz. Er besucht die Schule, lernt die Sprache, bemüht sich sehr. Für ein Interviewgespräch reicht es noch nicht ganz, aber: «Ich verstehe sehr gut, was mir Trainer und Mitspieler sagen. Das ist wichtig und ich hoffe, bald besser mit ihnen sprechen zu können.» Die Frage, ob Fussball die Sprache ist, in der alle sich unterhalten könnten, bejaht er.Das ist auf dem Platz sichtbar. Am letzten Sonntag, beim eingangs erwähnten Auswärtsspiel in Widnau, harmoniert er mit seinem Sturmpartner Dominique Lapp bestens. Die beiden lancieren sich gegenseitig, spielen ohne viele Worte gut zusammen. Der FCR trifft dreimal, beide sind daran beteiligt.[caption_left: Rohollah Afkari (links) und sein Freund und Übersetzer Mahdi Mirzai beim Gespräch in Rheineck.]Der zweite Grund ist: Afkari ist im Iran geboren und aufgewachsen, persisch ist seine zweite Muttersprache. Auch Mahdi Mirzai spricht sie fliessend. Dass afghanische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger im Iran leben, ist nicht aussergewöhnlich. Im Nachbarland lebt eine Diaspora, die über eine Million Menschen zählt.Die Familie Afkari lebt heute noch dort, den Sohn hatte es aber vorerst ins Heimatland gezogen. Der afghanische Fussballverband führte im Iran ein Sichtungstraining für talentierte Junioren durch. Rohollah Afkari war in einem Feld von 2000 Buben einer der wenigen, die an die Fussballakademie nach Kabul wechseln und sich einem Nachwuchs-Nationalteam anschliessen durften. Sportlich war er glücklich, er spielte regelmässig und begegnete wichtigen Personen aus Sport und Politik. Und doch sah er sich zur Flucht gezwungen. Rohollah Afkari gehört der Minderheit der Hazara an, die in Afghanistan stark verfolgt wird. Dies hauptsächlich, weil sie der schiitischen Ausrichtung des Islams angehören, im Gegensatz zur überwältigenden sunnitischen Mehrheit im Land.Trotz Flucht kam der Fussball nie zu kurz28 Minuten sind in Widnau gespielt. Rheineck liegt 0:2 zurück, da lanciert Lapp den Stürmer mit einem schönen Pass in den Strafraum. Afkaris Gegenspieler ist zu spät, kann ihn nur noch per Foul stoppen. Es gibt Penalty, Fabian Krämer verkürzt auf 1:2. Afkari darf den Elfer nicht sel­-ber schiessen, aber er hat ihn herausgeholt. Das wiederholt sich in der 61. Minute. Diesmal foult ihn der Goalie, wieder trifft Krämer, es steht 2:2. Rheineck ist zurück im Spiel, Afkari ist daran massgeblich beteiligt. Er sprüht förmlich vor Spielfreude, es ist gut zu sehen, wie viel Spass ihm der Sport bereitet.Neun Länder hat Afkari zu Fuss durchquert, bevor er in der Schweiz angekommen ist: Den Iran, die Türkei, Griechenland, Nordmazedonien, Serbien, Bosnien, Kroatien, Slowenien sowie Österreich. Einen längeren Aufenthalt hatte er nur in der nordostgriechischen Stadt Kavala zwischen der türkischen Grenze und Thessaloniki. Auch dort spielte er Fussball in einem Verein. Der Sport, sagt er, habe ihm auf der Flucht geholfen, auf andere Gedanken zu kommen. Abgesehen von der Zeit als Fussballer in Kavala bietet die Flucht kein Potenzial für schöne Erinnerungen.Erzielt er kein Tor, ist der Stürmer unzufriedenRheineck ist schlecht in die Saison gestartet, braucht jetzt dringend Punkte. Beim punktgleichen Widnau II macht der FCR nun Druck. Und er belohnt sich: In der 71. Minute köpft Rohollah Afkari einen Ball zur Mitte, Denis Benz ist zur Stelle und bringt Rheineck mit 3:2 in Führung. Nach zwei herausgeholten Penaltys darf Afkari sich auch noch einen Assist gutschreiben lassen. «Er gibt uns den Vorteil, zu jedem Zeitpunkt ein Tor schiessen zu können», sagt sein Mitspieler Luca Müller, der verletzt am Spielfeldrand zuschaut.[caption_left: Afkari ist ein Stürmer, der keinen Ball verloren gibt. Auch nicht hier im Zweikampf mit Widnaus Noe Rieser.]Sechs Tore sind Afkari in sieben Drittliga-Spielen gelungen. In Widnau kommt keines dazu; es reicht auch nicht zum Sieg. In der Nachspielzeit trifft der FCW zum Endstand von 3:3. Danach ist der Stürmer nicht allzu gut gelaunt. Er starrt ins Leere, trauert vergebenen Chancen und verlorenen Punkten nach.«Siehst du das? Er holt zwei Penaltys heraus und gibt einen Assist, ist aber unzufrieden, weil er heute kein Tor erzielt hat», sagt Rheineck-Trainer Rupert Schuster. Er beschreibt Afkari als ehrgeizigen Spieler mit sehr vielen Qualitäten. Zudem komme er immer pünktlich und gern ins Training.In der Marienburg ist Rohollah Afkari angekommen, nachdem er die ersten drei Monate in der Schweiz in Neuchâtel verbracht hatte. Noch ist er offiziell ein «vorläufig angenommener Flüchtling», er möchte aber in der Schweiz Fuss fassen. Um in den Arbeitsprozess zu gelangen, muss er die schulische Ausbildung beenden. Die Internatsschule Marienburg beurteilt alle Absolventen in Quartalsberichten, am Ende in einem Schlussbericht. Die Anforderungen für den Eintritt in die Arbeitswelt sind in der Schweiz hoch, besonders, was die Sprache angeht.Der Blick ins heutige Afghanistan schmerzt ihnDie sportlichen Erfolge bestätigen, dass er hier angekommen ist. Am Rebsteiner Pokalturnier erzielte er alle Rheinecker Tore, es folgten zwei in einem Test, drei in einem Cupspiel, sechs in der Liga. Afkari flog Anfang Saison aber auch zweimal nacheinander mit Gelb-Rot vom Feld. «Es war eine sehr schwierige Zeit für mich. Ich hatte kurz zuvor meine Mutter verloren und war mit allem etwas überfordert», sagt der 17-Jährige.Seither hat Afkari nur noch einmal Gelb gesehen, blieb zuletzt vier Spiele ohne Verwarnung. «Er lernt sehr schnell», sagt Trainer Schuster. In Widnau ging er als Erster dazwischen, als sich Sturmkollege Lapp mit dem gegnerischen Goalie anlegte.Afkari sagt, er habe «hier viel Menschlichkeit erlebt», besonders im FC. Im Heimatland gebe es diese nicht mehr, seit die Taliban an der Macht sind. «Das Wichtigste für jeden Menschen ist die Ausbildung. Diese lassen sie für sehr viele gar nicht mehr zu.» Besonders gilt dies für Minderheiten wie die Hazara. Es gehe aber noch deutlich weiter: «Frauen dürfen nicht einmal mehr Musik hören.» Es ist spürbar: Rohollah Afkari ist glücklich, hier zu sein. Der Blick ins Heimatland schmerzt aber.

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