04.09.2020

Apostelin unter Aposteln

Dieser Frau ist ein seltenes Schicksal widerfahren. Sie hat Jahrhunderte «überlebt» – als Mann – unter dem Namen Junias. Doch gemäss historischer Forschung soll es diesen Männernamen gar nicht gegeben haben

Von Ingrid Grave
aktualisiert am 03.11.2022
Es könnte sich um einen Schreib- oder Abschreibfehler handeln, der sich hartnäckig bis ins 20. Jahrhundert gehalten hat. Oder wurde dieser winzige Schreibfehler zunächst gerne übersehen, um die verhältnismässig wenigen Lesekundigen vergangener Jahrhunderte zu täuschen? Hat eine bestimmte Männergruppe dieser Frau die Ehre nicht gegönnt, in einem wichtigen biblischen Text lobend erwähnt zu werden? Als Frau?Fragen dieser Art müssen offen bleiben.Wir finden den Namen dieser Frau im Brief des Apostels Paulus an die Römer (16, 7), also an die christliche Gemeinde, die sich in Rom gebildet hatte. Eine Reihe dieser Christinnen und Christen muss Paulus persönlich gekannt haben, denn er fügt seinem Schreiben eine ganze Grussliste an. Genau auf dieser Liste lesen wir: «Grüsst Andronikus und Junia, meine Landsleute, die meine Gefangenschaft geteilt haben. Sie sind angesehen unter den Aposteln und haben schon vor mir zu Christus gehört» (Zürcher Bibel 2007).Junia war mit ihrem Mann Andronikus also schon vor Paulus Christin geworden und wird nun von Paulus ganz locker unter die Apostel eingereiht. Folgerichtig und grammatikalisch korrekt dürfen wir sie als Apostelin betiteln. Hier könnte der Haken liegen. Bis heute.Nach biblischer Tradition sprechen wir von zwölf Männern, die als Apostel das Evangelium Jesu Christi in die Welt getragen haben. Zusätzlich spricht die Kirche wie selbstverständlich von Paulus als Apostel, obwohl er zu seinen Lebzeiten Jesus kaum begegnet sein dürfte. Nach dem Tod Jesu verfolgte er sogar die ersten Christen, durchlief dann einen Prozess der Bekehrung und wurde zu einem überzeugten Anhänger Jesu und Verkünder seiner Botschaft, eben: Ein Apostel.Offenbar ist Junia mit ih-rem Mann Andronikus eben-falls in apostolischer Weise unterwegs gewesen. Paulus war wegen seiner Verfechtung der Lehre Jesu mehrmals im Gefängnis. An einem solch furchtbaren Ort trifft er eine Mitgefangene namens Junia, die aus gleichen Gründen eingekerkert ist. Apostel trifft auf Apostelin. Im ersten christlichen Jahrhundert!Warum tut sich die Kirche so schwer, Männern wie Frauen in ihrem kirchlichen Engagement gleiche Rechte zu gewähren?Die Frauen, Theologinnen und Seelsorgerinnen wehren sich, fordern kirchliche Gleichberechtigung und berufen sich dabei auf Junia. Mich freut’s! Und den Apostel Paulus sicher auch.Ingrid GraveDominikanerin

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