27.09.2019

Angst aushalten

Aus christlicher Sicht: Im Ersten Weltkrieg stehen ein K.u.K.-Offizier und ein jüdischer Feldarzt nebeneinander im Schützengraben, im schlimmsten Geschützfeuer. Der Arzt zittert wie Espenlaub...

Von Reinhard Paulzen
aktualisiert am 03.11.2022
Der Offizier steht stramm und gerade. Er fragt den Arzt: «Sehen Sie jetzt, was es heisst, ein K.u.K.-Offizier zu sein und keinerlei Angst zu haben?» Darauf der Arzt zum Offizier: «Und sehen Sie jetzt, was es heisst, ein gläubiger Mensch und ein Jude zu sein und auch die grösste Angst aushalten zu können? Wenn Sie soviel Angst hätten wie ich, dann wären Sie hier schon längst davongelaufen!»Diese Anekdote erzählt der grosse Wiener Psychiater und Arzt Viktor E. Frankl, der Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse. Ihm ist es ein Anliegen: Findet der Mensch einen Sinn für sein Leben, dann ist er dafür nicht nur bereit, auch Leiden auf sich zu nehmen, wenn es nötig ist, sondern dann ist er dafür auch in der Lage, alle Ängste und Sorgen auszuhalten. Die Frage Frankls lautet: «Kann man nicht stärker sein als die Angst? Muss man sich denn alles von sich gefallen lassen?»Im ERG-Religionsunterricht haben wir überlegt: Was bringt denn manche Leute und Jugendliche dazu, dass sie mit Gläserrücken oder Geisterbeschwörung anfangen? Das kann die reine Neugier sein, so etwas Geheimnisvolles einfach mal auszuprobieren. Aber je mehr ich dem Bedeutung gebe, desto mehr kann eine Angst und eine Sorge dahinter stecken, weil ich mit meinen Unsicherheiten jetzt und heute nicht umgehen kann. Was denken die anderen über mich? Bin ich auch gut genug? Schaffe ich die Schule, die Lehre, das, was ich leisten muss?Aber gerade das Gläserrücken oder Geisterbeschwören kann dazu führen, dass jemand, der daran glaubt, erst recht in die Angst hineingetrieben wird. Was kann wieder herausführen?Eine Antwort kann ein tragfähiges Gottvertrauen sein. Christliches oder jüdisches oder muslimisches. Als Christen sagen wir: Wir können Jesus, seinem Wort, seiner Gegenwart und seiner Kraft vertrauen, dass nichts uns trennen kann von der Liebe Gottes, er ist der Herr des Lebens.Heute wird in den katholischen Kirchen die Lazarus-Geschichte verlesen. Es könnte uns Angst machen, dass wir den Sinn unseres Lebens verfehlen, wenn wir unsern Besitz und Reichtum an die erste Stelle über alles andere setzen und die Not anderer Menschen uns gleichgültig lässt. Wenn wir diese Angst aushalten können – weil wir wissen, dass wir in Gottes liebender Hand gehalten und geborgen sind – dann können wir besser mit unserem Reichtum und Besitz umgehen.Reinhard PaulzenPastoralassistent in Heerbrugg

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