Die Jugendlichen aus dem Heim Oberfeld und das Projektteam unter der Leitung der Kunst- und Ausdruckstherapeutin Regula von Euw haben sich an schwere literarische Kost gewagt, an Max Frischs «Andorra». In dem Stück geht es um den jungen Andri, der im fiktiven Andorra (in dem man auch die Schweiz sehen könnte) als angeblich jüdischer Pflegesohn in der Familie eines Lehrers aufwächst. Der Lehrer will ihn aus dem von einer antisemitischen Macht regierten Nachbarland gerettet haben. Die Andorraner geben zwar vor, frei und unvoreingenommen zu sein. Andri wächst aber unter dem Druck dauernder Vorurteile und Schikaniererei auf, so dass er zuletzt, als sein Pflegevater sich zur Vaterschaft bekennt, selbst nicht mehr dran glauben will. Er ergibt sich in sein Schicksal und wird von den ins Land eingefallenen Soldaten des Nachbarlands hingerichtet.Und plötzlich findet man sich im Hier und JetztRegisseurin Regula von Euw (sie ist die Schwester der Heimleiterin Astrid von Euw) hielt sich weitgehend an die Vorlage des Autors, hat aber doch einige teils neckische Adaptionen vorgenommen. So ist beispielsweise der katholische Pater aus der Theatervorlage im Film eine Priesterin(!). Die schockierende Judenschau durch die fremde Macht wirkt im Film fast belustigend, weil sich die Andorraner nicht mit schwarzen Tüchern verhüllen, sondern Schutzanzüge und Hygienemasken tragen müssen; die gelben Militärplakate aus Frischs Vorlage werden im Film zu Corona-Plakaten des Bunds. Wäre es nur als witziger Gag gedacht, wäre es unverzeihlich verharmlosend. Aber da klingt Kritik an von der Obrigkeit ausgeübter Macht mit. Und, wo wir die letzten Monate selbst vom Staat erlassene Notstandsverordnungen erlebt und befolgt haben, auch die Frage, was wohl sonst noch möglich wäre heute, im Hier und Jetzt.Wesentlichste Abweichung vom Originalstoff ist aber, dass Andri weniger als Jude ausgegrenzt wird, sondern weil er ein Schwarzer ist. Das ist zwar verwirrend, weil sowohl der Vater als auch Andris tatsächliche Mutter von Weissen gespielt werden. Regula von Euw blendet damit genetische Gesetzmässigkeiten wissentlich aus. Es geht ihr denn auch um jegliches Anderssein, das in der Gesellschaft zu Vorurteilen und Ausgrenzung führt. Wohl so gut wie alle der im Heim Oberfeld betreuten Kinder und Jugendlichen kennen es aus eigener Erfahrung.Und während der Autor des Stücks den Leser in der Tragik des Miterlebten zurücklässt, hängen Regula von Euw und ihre jungen Schauspieler eine Schlussszene an, die es bei Max Frisch nicht gibt: Darin brechen die Andorraner mit Fahnen in allen Farben in ihre Zukunft auf. Man kann dies als dargestellte Hoffnung deuten, dass der Mensch nicht von vornherein voreingenommen ist und dass die Gesellschaft ihre eigene Vielfalt erkennen und zulassen kann.Eigentlich sollte der Max-Frisch-Stoff als Theater einstudiert werden. Doch dann kam Corona. Und alle Arbeit bis dahin – das Einlesen in das Stück, das viele Textauswendiglernen, das Sich-in-die-Rolle-Hineindenken, das Einüben der Einsätze während des Stücks – alles schien für die Katz’ gewesen zu sein.Es waren die beteiligten Jugendlichen selbst, die insistierten, weiterzumachen. Trotz Corona. Weil allerdings nicht absehbar war, ob man in nützlicher Zeit würde vor Publikum spielen können, kam die Projektgruppe in der Diskussion mit den Jugendlichen über das Wie-weiter zum Entschluss, statt des Theaterstücks einen Film auf die Beine zu stellen.Gefilmt wurde in Marbach auf dem Heimareal, im Ortsmuseum Oberes Bad und vor der katholischen Kirche sowie in Staad im Steinbruch Bärlocher. Es war aber Mai geworden, bis die Corona-Massnahmen so weit gelockert wurden, dass überhaupt an Dreharbeiten zu denken war. Und weil die Verarbeitung von Filmsequenzen jeweils wesentlich mehr Zeit in Anspruch nimmt als das Drehen selbst, stand fürs Filmen nur noch eine Woche zur Verfügung. Auch deswegen ist das Entstandene – beeindruckend!Dem wurde auch mit der Wahl des Ortes für die Premierenaufführung Respekt gezollt: Schauspieler und Angehörige waren gestern ins Kino Madlen in Heerbrugg zu einer Frühsoirée eingeladen. Ob es weitere Aufführungen geben wird, ob im Kino oder anderswo, ist offen. Regisseurin Regula von Euw und die Jugendlichen würden es sich wünschen.Hinweis: Die Sommerausgabe 2020 der Heimzeitung «Mitenand» ist mit Fotos von den Dreharbeiten reich bebildert. Es ist darin auch eindrücklich beschrieben, unter welchen aussergewöhnlichen Bedingungen der Film entstanden ist und wie schwer der Corona-Lockdown für die Jugendlichen im Heim war. Man kann sich das «Mitenand» hier herunterladen.