Als Claudia Hutter ein Kind war, sagte ihre Tante, Fräulein B., gelegentlich zu ihr: «Kläudali, Kläudali, muesch denn emol luege.» Damit hat sich die Erinnerung der 50-Jährigen schon fast erschöpft. Denn ihre Tante, obschon Kriessnerin, verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens im Kanton Thurgau. Als kurz nach der Geburt ihr Vater an einer Lungenentzündung gestorben war, kam sie im Alter von drei Monaten zu einer Pflegefamilie nach Steckborn.Die Schulzeit ab der 2. Klasse verbrachte Fräulein B. dann zwar in Kriessern, ihre Mutter hatte sie zurückgeholt, sie wohnte aber nicht zu Hause, sondern bei Verwandten, im Haus eines «launischen Frauenzimmers». Claudia Hutter liest das in einem Aufsatz der Tante, die den Text am 25. Mai 1957 geschrieben hat– vier Tage, nachdem sie ein erstes Mal in die psychiatrische Klinik von Münsterlingen eingewiesen worden war. In ihrer Krankenakte ist sie – bis zur Heirat 1966 – «Frl. B.»Sehr früh «verpsychiatrisiert»Über dem Leben des Fräulein B. lag eine dicke Schicht aus Schweigen. Einem Protokoll der Amtsvormundschaft Arbon entnimmt Claudia Hutter eine beklemmende Aussage der Tante, die elf Jahre mit einem Appenzeller verheiratet war und die letzten 24 Jahre ihres Lebens wieder allein verbrachte. Man habe sie sehr früh «verpsychiatrisiert», resümierte die Tante, über die Claudia Hutter sagt, Geborgenheit in ihrer eigenen Familie habe sie nie erlebt. Nach dem ersten, neunmonatigen Aufenthalt der Tante wegen Kopf- und Menstruationsschmerzen in der Klinik Münsterlingen folgten bis zu ihrem Tod im Jahr 2002 eine zweite, dritte, vierte, fünfte, sechste, siebte, achte sowie neunte Internierung. Insgesamt verbrachte Fräulein B. 1492 Tage in der Klinik – vier Jahre, 32 Tage.Einblick in Akten erkämpftClaudia Hutter war sich des Ausmasses an Gewalt und Missbrauch bis ans Lebensende ihrer Tante nicht bewusst gewesen. Das änderte sich am 14. Februar dieses Jahres, also am Valentinstag. Da sass Claudia Hutter in der Klinik Münsterlingen erstmals an einem kleinen Tisch im Büro der Chefarztsekretärin, einen Aktenberg vor sich, den vorgelegt zu bekommen sie sich hatte erkämpfen müssen, und der chronologisch nicht geordnet war.Das Departement für Finanzen und Soziales gestand Claudia Hutter das Recht zu, alle Akten über ihre Tante einzusehen – alle tausend Seiten. Denn als Journalistin befasste sich die in Gais lebende Rheintalerin mit «generationenübergreifender Traumatisierung durch häusliche und sexuelle Gewalt an Frauen». Ausserdem war sie dabei, einen inzwischen vollendeten, aber bis jetzt nicht publizierten Roman über Fräulein B. und ihr Umfeld zu schreiben.Die Geschichte ihrer Tante, speziell die mehrmalige Einweisung in eine Psychiatrische Klinik, erlaubten «Einblicke in die Stigmatisierung von gewaltbetroffenen Frauen durch Familie, Kirche und Gesellschaft im letzten Jahrhundert» hielt der Kanton fest. Mit der Krankenakte wollte Claudia Hutter ihre Recherchen ergänzen und abschliessen.Zu Jolanda Spirigs Buch «Die Schürzennäherinnen» hatte Claudia Hutter mit einem entscheidenden Hinweis den Anstoss gegeben. Zu Hutters eigenem vollendeten Roman «Ich höre deine Stimme» schreibt Gottlieb Höpli, der frühere Chefredaktor des St.Galler Tagblatts: Der Roman zeige, dass Ereignisse wie jene in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen von den Fünfziger- bis spät in die Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts «nicht vergangen sind, wenn die Leidenszeit der betroffenen Patienten mit dem Tod endet, sondern bis heute auf deren Familien lasten».Die Tante war eines der OpferErst im September dieses Jahres wurde öffentlich bekannt, was in Münsterlingen geschah. Kurz gesagt, in drei Sätzen aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 23. September: «Drei Jahrzehnte lang testeten Basler Pharmafirmen nicht zugelassene Medikamente an Tausenden Menschen in der Schweiz. Besonders ‹hilfreich› war die Klinik im thurgauischen Münsterlingen. Der 2005 verstorbene Oberarzt Roland Kuhn steigerte sich in ein wahres Versuchsfieber.»Fräulein B. war eines der Opfer. Am 15. August 1957, nach einem Gespräch mit dem Arzt, verweigerte die Kriessnerin die Medikamenteneinnahme. Ihr heftiger Widerstand ist im Protokoll vermerkt, sie galt als widerspenstig und kostspielig, als «multipel schizophren» und «abartig».Flucht- und SelbstmordversucheClaudia Hutter kommt es vor, als hätte es eine Verschwörung gegen Fräulein B. gegeben, an der ihre Herkunftsfamilie ebenso wie die Pflegefamilie, Behörden und Psychiatrie beteiligt waren.Die Lage der Tante schien ausweglos.Während des ersten Klinikaufenthalts, der 272 Tage dauerte, scheiterte der Versuch, durch eine Toilette zu entkommen, ebenso wie zumindest zwei Selbstmordversuche. Die Medikamente bekam Fräulein B. gewaltsam verabreicht oder gespritzt, es befanden sich Medikamente darunter, die nicht benannt, sondern bloss mit einer Zahl versehen waren.«Ich will fort (...), sie kommen wieder»In Steckborn, bei ihren Pflegeeltern, die eine leibliche Tochter hatten, war ihr Zuhause. «Die Pflegeeltern waren sehr nett», schrieb Fräulein B., besonders der Pflegevater, den sie Papa nannte. Sie musste allerdings in die Fabrik, eine Ausbildung blieb ihr versagt. Abends lernte sie Steno, Maschinenschreiben und Buchhaltung. «Es war ein sehr schönes Jahr, bis Papa starb», schrieb Fräulein B. mit Blick zurück auf ihre Jugendzeit.In der Krankenakte der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, vormals Heil- und Pflegeanstalt Münsterlingen, wurde Mitte August 1957 notiert: Die Patientin drängte in den Waschsalon hinaus und versteckte sich in grosser Erregung in einer Ecke. Angstvoll jammerte und weinte sie, dass das Haus erwachte: «Ich will fort, ich geh nicht mehr ins Bett, sie kommen wieder.»Nach einer Ampulle Lommifen war es möglich, sie ins Bett zu bringen. Sie klammerte sich voller Angst an die Schwester und flehte: «Bleiben Sie da, ich fürchte mich.»Zwei Wochen später war die Pflegemutter zu Besuch. Nach kurzer Zeit lief sie aufgeregt und blass aus dem Saal, in dem sie mit ihrer leiblichen Tochter und mit Fräulein B. gesessen hatte. In der Krankenakte wird sie so zitiert: «Da halte ich es nicht mehr aus, ich werde auch verrückt da drin.»Stets hatte sie Bücher um sichDatiert mit 5. November, ebenfalls 1957, findet sich die folgende Beschreibung: Frl. B. lief von einer Seite zur anderen, ergriff dann ihre Strickarbeit, zerrte die Maschen ab den Nadeln, riss das Gestrickte auf und sagte: «Ich arbeite nicht für ein solches Haus.»Man versprach der Patientin den Leibgurt, sie zog es dann vor, selbst ins Bett zu gehen und verhielt sich bis nach dem Nachtessen ruhig.Dann flüchtete die Patientin in den Abort und versuchte, den Fensterflügel einzuschlagen. (…) Frl. B. wurde auf diesen Zwischenfall hin mit dem Leibgurt fixiert. Die Patientin sagte: «Ich werde lärmen, so dass niemand schlafen kann.»Frl. B. blieb aber ruhig.Vom Oberrieter Bestattungsamt erfuhr Claudia Hutter, dass ihre Tante am 27. Mai 2002 in Schwellbrunn gestorben war. Mit einem Aufruf im Gemeindeblatt von Schwellbrunn suchte Claudia Hutter im März 2018 nach Menschen, die ihre Tante gekannt hatten.Es meldete sich eine ehemalige Gemeindehelferin, worauf die Rheintalerin die Pension aufsuchte, in der ihre Tante die letzten Wochen ihres Lebens verbracht hatte – medikamentenabhängig und schwer krank, an Osteoporose leidend sowie unter körperlichem Zerfall.Wie immer in ihrem Leben hatte sie Bücher um sich und ihre Pillendose auf dem Tisch. Als einzige Frau in der ganzen, ihr fremden Verwandtschaft rauchte sie.Den letzten Kampf in Arbon ausgefochtenDie Tante hatte eine IV-Rente, war in Arbon angemeldet und hatte dort ihren letzten Kampf ausgefochten. Ein Gericht entschied in ihrem Todesjahr, sie werde nicht entmündigt, denn das Ziel der Vormundschaft sei nur gewesen, sie gefügig zu machen.Mit diesem kleinen Sieg, sagt Claudia Hutter, sei ihre Tante ins Jenseits gesegelt. Ohne Schmerzen sei es ihr vergönnt gewesen, friedlich einzuschlafen.Anfang Oktober beantragte der Verein Fremdplatziert in einem Brief an die Gemeinde Münsterlingen, die dem Münstlerlinger Chefarzt Dr. Kuhn verliehene Ehrenbürgerschaft sei ihm abzuerkennen.Die Gemeinde teilte mit, das sei nicht möglich; mit dem Tod sei rechtlich die Persönlichkeit zu Ende.Der Verein will dies nicht akzeptieren.Wie es um die Psychiatrie früher bestellt war, widerspiegelt auch der Satz einer Bündner Psychiaterin, mit der Fräulein B. nur ein Jahr vor der Jahrtausendwende zu tun hatte. Sozial vermutlich isoliert, lebe die Kriessnerin ein Leben nach ihren eigenen Regeln, schrieb die Ärztin – und fügte hinzu: „Wie besprochen, würde ich die nächsten Tage Haldol heimlich geben.“Haldol, ein Neuroleptikum.Stigmatisierung als zweiter VornameIhr Manuskript hat Claudia Hutter in den letzten fünf Jahren geschrieben, um Klarheit und Versöhnung zu finden, nachdem die Tante in ihrer eigenen Familie stets ein Tabu geblieben sei.Stigmatisierung scheine der zweite Vorname der Tante zu sein – bis in den Tod und darüber hinaus, schreibt die Autorin.Wie dunkel die Zeit gewesen sei, in der die Tante lebte, sei kaum noch nachvollziehbar. «Umso wichtiger ist der Blick zurück, wollen wir als Familien und als Gesellschaft Gegenwart und Zukunft anders gestalten», findet Claudia Hutter. Und vielleicht ihr schönster Satz heisst: «Anderssein ist auch normal.»