13.10.2021

Am Tag der Tat aus Psychiatrie entlassen

Wegen eines Tötungsdelikts in St. Gallen ist ein Verfahren gegen die Psychiatrie St. Gallen Nord eingeleitet worden.

Von Enrico Kampmann
aktualisiert am 03.11.2022
Der Fall erschütterte die ganze Schweiz. Wie wir bereits berichteten, drang ein 22-jähriger Mann im September vergangenen Jahres in eine Wohnung an der Speicherstrasse in St. Gallen ein und erschlug eine 46-jährige Frau auf brutale Weise.Recherchen des «Blick» haben nun ergeben, dass der Mann wenige Stunden vor der Tat nach einem einwöchigen stationären Aufenthalt aus der Psychiatrie St. Gallen Nord (PSGN) in Wil entlassen worden war. Aus diesem Grund wurde nun ein Verfahren gegen die Klinik eingeleitet, wie Leo-Philippe Menzel, Medienbeauftragter der Staatsanwaltschaft St. Gallen, bestätigt. Zunächst gehe es darum, abzuklären, ob sich Einzelpersonen strafbar ge-macht haben könnten. «Fahrlässige Tötung und Aussetzung stehen als Vorwürfe im Raum», sagt Menzel.In Anbetracht des eingeleiteten Verfahrens drängt sich eine Frage auf: Hätten die behandelnden Ärzte die Gefahr, die vom Mann ausging, erkennen und seine Entlassung verhindern müssen?Die öffentliche Sicherheit steht nicht im ZentrumDie PSGN äussert sich aus Gründen der ärztlichen Geheimhaltungspflicht nicht spezifisch zum besagten Fall. Jedoch erklärt Thomas Maier, Chefarzt der Erwachsenenpsychiatrie in der PSGN, in einer schriftlichen Stellungnahme, unter welchen Umständen es einer psychiatrischen Klinik überhaupt erlaubt ist, einen Patienten gegen seinen Willen festzuhalten. Dazu gebe es im Schweizerischen Zivilgesetzbuch präzise Vorgaben, sagt Maier. Diese würden im Grunde zwei Instrumente vorsehen. Das Erste sei die sogenannte fürsorgerische Unterbringung (FU), welche von einem externen Arzt ausgesprochen werden müsse.Chefärztliche Rückbehaltung ist seltenBei der FU stehe aber nicht primär die öffentliche Sicherheit im Zentrum, sagt Gerichtspsychiater Thomas Knecht, Leitender Arzt der Fachstelle Forensische Psychiatrie und Psychotherapie im Spitalverbund Appenzell Ausserrhoden. Wenn ein Patient wegen einer psychischen Störung oder starker Verwahrlosung nicht mehr imstande sei, eine ambulante Therapie aufzusuchen, solle die FU sicherstellen, dass dieser dennoch behandelt werden könne. «Ist der Patient wieder ausreichend manövrierfähig, um eine ambulante Therapie anzutreten, muss er entlassen werden.»Für Notfallsituationen gebe es bei freiwillig eingetretenen Patienten ausserdem noch das Instrument der chefärztlichen Rückbehaltung (CR), sagt PSGN-Chefarzt Thomas Maier. Laut Zivilgesetzbuch sei diese zulässig, wenn eine Person «sich selbst an Leib oder Leben gefährdet oder das Leben oder die körperliche Integrität Dritter ernsthaft gefährdet». Dazu sagt Gerichtspsychiater Knecht, dass die CR nur in extrem seltenen Fällen zum Einsatz käme. Der Patient müsse klare Anzeichen für Gewaltbereitschaft gegen sich oder andere aufweisen.Schizophrenie oderwahnhafte StörungDie genaue Diagnose des Mannes ist nicht bekannt. Knecht vermutet, er habe an einer Schizophrenie oder einer wahnhaften Störung gelitten. Hätte man bei einem Menschen mit einem Krankheitsbild dieser Art die Gewaltbereitschaft nicht erahnen können? PSGN-Chefarzt Maier sagt: «Bei Erkrankungen aus dem psychotischen Formenkreis, wozu auch die Schizophrenie gehört, können auch unerwartete und uneinfühlbare Verhaltensweisen auftreten.» Solche seien nicht immer im Voraus zu erkennen.Knecht teilt die Meinung von Maier. Er sagt, es gebe in dieser Hinsicht wenig Regeln, auf die man sich wirklich verlassen könne. «Selbst wenn man einen Patienten schon gut kennt, ist es extrem schwierig, seinen Krankheitsverlauf vorauszusagen.» Äussere Faktoren spielen auch eine Rolle Es gebe sehr viele äussere Faktoren, die diesen beeinflussen könnten. Von Schlafmangel über Stresssituationen bis hin zu Alkohol und Drogen – von welchen der Täter laut «Blick» vor der Gewalttat Gebrauch machte. Hinzu komme, sagt Knecht, dass der Mann mit grösster Wahrscheinlichkeit zum Austrittszeitpunkt selbst nicht plante, eine Gewalttat zu begehen. So sei es unwahrscheinlich, dass der Mann irgendwelche Indizien gegeben hätte, anhand von welchen der behandelnde Arzt dem Patienten den Austritt hätte verweigern können.Auch in einem letzten Punkt sind sich die beiden Psychiater unabhängig voneinander einig. Insgesamt sei die Gewaltanwendung durch Menschen mit psychotischen Erkrankungen sehr selten. Der grösste Teil von Gewalttaten werde von «ganz normalen Menschen» begangen.Enrico Kampmann

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