26.06.2019

Als auf dem Rhein die Särge tanzten

In Konstanz widmet sich eine Ausstellung unter dem Titel «Der gefährliche See» den Katastrophen und Wetterextremen im Bodenseeraum. Breite Aufmerksamkeit bekommt auch das Rheintal.

Von Rolf App
aktualisiert am 03.11.2022
Das Bild wirkt beinahe lieblich. Es zeigt das Rheintal bei Au, mit Höfen, einer Brücke, einer Kirche. Und überall Wasser. Man sieht weder Mensch noch Vieh. Das macht es, dass man auch die Not nicht sieht. Das Bild stammt aus dem Jahr 1868. Ende September haben in vielen Teilen der Schweiz sintflutartige Regen eingesetzt. Föhnwinde lösen in höheren Lagen eine Schneeschmelze zur falschen Zeit aus. Was sich nirgendwo so deutlich zeigt wie hier im Rheintal, wo all das Wasser zusammenkommt, bevor es in den Bodensee fliesst.Nur eines von vielen katastrophalen JahrenMit dem Rheintal setzt eine Ausstellung ein, die bis zum 29. Dezember in Konstanz im Kulturzentrum am Münster zu sehen ist, und die deshalb auch von der Rheintaler Kulturstiftung gefördert worden ist. Unter dem Titel «Der gefährliche See. Wetterextreme und Unglücksfälle an Bodensee und Alpenrhein» erzählen sowohl die Ausstellung wie auch das vom Ausstellungsmacher Tobias Engelsing erarbeitete, reich bebilderte Begleitbuch auch von jenen Überschwemmungen, die einerseits zu katastrophalen Zuständen geführt, aber andererseits auch jene Zusammenarbeit bewirkt haben, welche die «Rheinnot» überwinden half.Das Jahr 1868 ist in einem katastrophalen Jahrhundert eines von mehreren Hochwasserjahren. Monatelang fliesst das Wasser nicht ab, zeitweise bricht die Versorgung mit Trinkwasser und Nahrungsmitteln zusammen, und auch die Friedhöfe haben keine Ruhe: An einigen Orten erfassen die Fluten auch sie, Särge und halbverweste Leichen auf dem Rhein. In der Ausstellung ist deshalb auch ein Kindersarg zu sehen. Eine Expertenkommission listet fast 5000 Geschädigte auf, über 3000 von ihnen sind sehr arm. Ums Leben kommen sie oft beim Versuch, ihre Angehörigen oder ihre Habe in Sicherheit zu bringen. Wie der Grenzwächter Ludwig Kehl in Buchs, der zunächst mit seiner Frau zusammen die drei Kinder auf dem nahe gelegenen Binnendamm in Sicherheit bringt. Als sie ins Haus zurückkehren, um die wichtigsten Habe zu bergen, stürzt das Haus ein und begräbt sie unter sich.«Die Leute flohen auf Dächer und Bäume»Diese und viele andere Schicksale rütteln auf. Über die Jahrhunderte ähneln sich die Katastrophenberichte, stellt Tobias Engelsing fest. 1762 berichtet der in Berneck tätige Appenzeller Pfarrer Gabriel Walser, das Rheintal sehe aus «wie ein grosser See, so dass man vom Sennwald an, bis auf Lindau und Bregenz 12 Stund weit mit einem Schiff fahren konnte. Die Leute flohen auf Dächer und Bäume, schryen erbärmlich um Hülfe. Man brachte ihnen Flösse und Schiffe zu, und rettete sie so gut als möglich auf die Berge.»Gegen Ende des 18. Jahrhunderts werden Stimmen laut, die technische Eingriffe fordern. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts aber nimmt das länderübergreifende Vorhaben der Rheinkorrektion langsam Gestalt an. Dass sich zwei Jahre nach den Überschwemmungen von 1868 erneut schwere Unwetter ankündigen, die grosse Teile von Vorarlberg schwer schädigen und wieder einmal das ganze Rheintal unter Wasser setzen, trägt dazu bei, dass Österreich-Ungarn und die Schweiz einen Vertrag zur Rheinregulierung unterzeichnen. Bei Fussach und im Raum Widnau/Diepoldsau wird der Rhein durchstochen und sein Lauf begradigt. Später, als sich Geschiebe ablagert und das Mündungsgebiet verlandet, wird die Rinne des Rheins verengt und die Rheinmündung in den See hinein verlegt.Ein ordentlicher Schub für das NationalbewusstseinDoch was ein Segen ist, das hat auch seine problematischen Seiten. Schon Ende des 19. Jahrhunderts monieren Naturschützer, die Begradigung und Einmauerung des Rheins nehme dem Alpenfluss seinen wilden Charakter und vielen Tieren wichtige Lebensräume. Tobias Engelsing macht das beim Gang durch die Ausstellung mit einer Zahl deutlich: «Vor Beginn der Korrekturmassnahmen 1892 befanden sich am Lauf des Alpenrheins noch 6000 Hektar Talmoore, 1999 waren es noch 109 Hektar.»Die Überschwemmung von 1868 aber macht noch einen anderen Wandel deutlich. Während sich die Behörden bis dahin stark zurückgehalten haben, löst diese regional begrenzte Katastrophe zum ersten Mal eine Welle nationaler Hilfsbereitschaft aus. Zeitungen berichten über die Verhältnisse vor Ort und beschwören jenes «einig Volk von Brüdern» aus dem Rütlischwur. Ein Bundesrat bereist die Katastrophengebiete, die Armee wird aufgeboten, und die Regierung erklärt die Katastrophe zum «Landesunglück». Mit anderen Worten: Die Flut gibt dem Schweizer Nationalbewusstsein einen ordentlichen Schub.Hinweis Die Ausstellung «Der gefährliche See» ist bis zum 29. Dezember im Kulturzentrum am Münster in Konstanz zu sehen. Das Begleitbuch dazu von Tobias Engelsing ist im Südverlag erschienen.

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