08.01.2020

Alles soll so bleiben, wie es ist

Jan Esser war als Physiotherapeut bereits bei Weltmeisterschaften, Europameisterschaften und Weltcups tätig.

Von Gerhard Huber
aktualisiert am 03.11.2022
Jan Esser, sozusagen Physiotherapeut der ersten Stunde im Rheintal, ist in vielen Sportarten und auf vielen Sportplätzen zu Hause. Im Dezember 1982 als Cheftherapeut des Spitals nach Altstätten gekommen und seit 1989 mit der damals erst zweiten Physiotherapiepraxis der Region selbstständig geworden, ist er seither aus unserer Sportszene nicht mehr wegzudenken. Ein Holländer im Rheintal. Was so nicht ganz richtig ist.«Ich bin ein Niederländer aus der Provinz Brabant, aus Breda, kein Holländer. (Holland besteht eigentlich nur aus den beiden Provinzen Noord-Holland und Zuid- Holland. Anm. Red.) Nach meiner Ausbildung bekam ich in meiner Heimat keinen Job, nur Ferienvertretungen. Damals war meine Schwester schon seit einem Jahr im Spital Frauenfeld und erzählte mir, dass in der Schweiz sehr viele Physios gesucht würden. Also rein ins Auto und kreuz und quer durch die Eidgenossenschaft. Das Ergebnis waren 21 Angebote, aber meist Reha-Zentren, das wollte ich nicht. Übrig blieben Rorschach und Uster. Ich kam einen Tag zu spät nach Rorschach, da war der Job weg. Aber man sagte mir dort, man suche im Spital Altstätten einen Cheftherapeuten. Und daraus sind jetzt insgesamt 37 Jahre in Altstätten geworden. Denn wenn man wie ich aus einer Grossstadt kommt, dann sind die Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit in dieser Schweizer Region ganz einfach schön und lebenswert.»Seine Gattin Eveline, die er während seiner Ausbildung in den Niederlanden kennen gelernt hatte, ist zwei Monate später nachgekommen und fand auch gleich einen Job. Bald wurde geheiratet, bald kamen dann die beiden Söhne zur Welt. Echte Rheintaler, die dann bei den Junioren für den FC Altstätten spielten. Der ältere der beiden ist heute nach Abschluss einer Hotelfachschule wieder in den Niederlanden, der jüngere hat den Abschluss an der Universität St. Gallen gemacht und lebt und arbeitet in London.«Heimweh hat es bei uns nie gegeben. Bei meiner Frau schon gar nicht. Sie hat gleich ihre Liebe zu den Bergen entdeckt. 1989 wurde ich selbstständig. Erste Frage: Wie komme ich eigentlich zu Kunden? Ich wollte etwas mit Sport machen. Da kam Fredy Widmer aus Rebstein zu mir und hat mich mit dem Behindertensport in Kontakt gebracht. Als Fredy, der Schwimmer bei den Versehrten war, 1990 an den Weltspielen in Assen in den Niederlanden teilnahm, hat er mich gefragt, ob ich als Betreuer mitfahre. Das war natürlich ein Hit für die ganze Schweizer Mannschaft, denn sie hatten mit mir nicht nur einen Physio, sondern zugleich einen Dolmetscher dabei. Zwei Jahre später wurde ich dann als Betreuer für das ganze Schweizer Team mit Schwerpunkt bei den Schwimmern bei den Paralympics in Barcelona 1992 angefragt.»Wie dem Archiv des «Rheintalers» entnommen werden kann, war Fredy Widmer als Oberschenkelamputierter in der Weltspitze in seiner Klasse bei den Schwimmern zu finden. Nach Barcelona war Jan Esser dann sieben Jahre als Physio für das Swiss-Para-Schwimm-Team und sechs Jahre für das Swiss-Para-Cycling-Team tätig. Und als Betreuer an den Paralympics Atlanta, Sydney, Athen, Peking und London mit dabei. Dazu kamen noch sieben Weltmeisterschaften, vier Europameisterschaften und zwei Weltcups.«Der Umgang mit versehrten Menschen war für mich absolutes Neuland. Anfangs war ich schockiert, was die Schwere der Verletzungen anging. Schockiert über die Geschichten mit Krankheiten und Unfällen. Was aber schnell in pure Bewunderung umgeschlagen ist. Bewunderung über die Kraft und Lebensfreude dieser Sportler. Ihr allererster Sieg war meist die Überwindung von Krankheits- und Unfallfolgen, also das blosse Überleben. Dann die lebenswerte Lebensgestaltung. Dann kam der Sport. Dass man mit einer solchen Problematik dann doch so viel Positives tun und erreichen kann, ist einfach grossartig. Was ich daraus gelernt habe, ist, meinen anderen Patienten beizubringen, dass man niemals die Hoffnung auf Besserung verlieren darf.»Jan Esser blieb im Versehrtensport verankert. Bis heute. Zunächst als Physio, später dann auch als «Classifier». Als solcher hat er die Sportler vor dem Wettkampf zu untersuchen und ihr Handicap, also den Grad der Versehrtheit richtig einzustufen. Damit die Konkurrenz fair bleibt. Und nicht, wie vor langer Zeit einmal geschehen, eine spanische Basketballmannschaft ohne einen einzigen Versehrten mitmacht. So ist er bis heute bei Veranstaltungen weltweit als «International Classifier Cycling» und «International Classifier Golf» tätig.«Für Golf und Radfahren habe ich ein Klassifizierungshandbuch erarbeitet, das weltweit im Einsatz ist. Mit der Klassifizierung garantieren wir die Chancengleichheit. Denn immer wieder wollen zum Beispiel auch Leute mit Hüft- oder Knieprothesen mitmachen, was natürlich nicht geht. Als Classifier gibt es für mich jeweils zwei Highlights. Zum ersten, wenn es nach einem grossen Turnier keinen einzigen Protest gibt. Zum zweiten, wenn ich wieder eine menschlich unglaublich imposante Story höre, wo Ärzte und Familien einen Schwerverletzten schon aufgegeben hatten und dieser einige Jahre später an WM oder Paralympics teilnimmt – Wow!»Seine zweite grosse Liebe als Physio sind die Faustballer aus Widnau. Seit 27 Jahren betreut Jan Esser den Faustball Widnau. War mit dem Team zweimal in Südamerika, war bei Europameisterschaften, Schweizer Meistertiteln und beim legendären Weltcupsieg dabei. Überall, wo Faustball gespielt wird.«Remo Schmitter vom KTV Widnau war bei mir Patient. Er hat mich gefragt, ob ich nicht Konditionstrainer bei den Faustballern werden wolle. Da musste ich zunächst zurückfragen, was ist Faustball überhaupt? Ich bin dann selbst nach Walenstadt gefahren, wo ein grosses Turnier stattfand. Den Sport dort fand ich langweilig. Aber die Arbeit mit dieser Truppe war einfach toll. Die Unterstützung und der Zusammenhalt fantastisch. Sie fragten mich sogar, ob ich Trainer werden wollte, ich antwortete, ihr spinnt ja. Ich habe dann den Jugend- und Sportkurs als Faustballtrainer gemacht, habe einfach angefangen und es hat für alle gepasst. Das habe ich einige Jahr lang gemacht, gleichzeitig Physio und mit meiner Praxis als Gönner und Sponsor. Ich fühle mich bis heute bei Faustball Widnau richtig wohl. Sie haben mir von Anfang an das Gefühl gegeben, dass sie mich schätzen und den Wert meiner Arbeit sehen. Inzwischen weiss ich natürlich, dass ich schwer unterschätzt hatte, was es im Faustball braucht, um an der Spitze zu stehen. Die Sportart ist spannend, athletisch und rein menschlich überhaupt die beste von allen.»Neben den Faustballern hat er noch viele Rheintaler Spitzensportler betreut. Ob Skifahrer, Ringer, Tennisspieler, Volleyballer oder professionelle Tänzer. Alle vertrauten auf sein Können. In seiner Jugend und frühen Erwachsenenzeit war Jan Esser selbst als Landhockeyspieler in der höchsten Liga der Niederlanden tätig und spielte Golf in der höchsten Jugendliga. Dazu kamen Tennis, Baseball, Tischtennis, Handball und Leichtathletik. Ein Multitalent. Was er auch zeigte, als er in Altstätten vier Jahre lang als Volleyballtrainer und später fünf Jahre Juniorenfussballtrainer war.«Als Physio war ich zwischendrin dann auch zwei Saisonen bei den Luchsen vom SC Rheintal, eine halbe Saison in Uzwil. Und fünf Jahre lang für das Fanionteam des FC Altstätten, als man dort noch in der Nati B und der Erstliga spielte. Dann auch ein Vierteljahr beim FC St. Gallen, wo es mir aber nicht gefallen hat. Jetzt bin ich dem Fussball noch als Co-Sponsor dem FC Widnau und dem FC Altstätten verbunden.»Im Laufe der Jahre hat Jan Esser über 8o Praktikanten ausgebildet, war zehn Jahre Lehrer in der Physioschule. Mit dem Sport war er auf allen Kontinenten, war immer unterwegs. Der «fliegende Holländer aus dem Rheintal» (hier muss der Kalauer dann doch sein) hat vor 15 Jahren mit seiner Gattin in Alt-stätten ein grosszügiges Einfamilienhaus gebaut. Seine Ruhestation zum Regenerieren und Aufladen der Batterien.«Persönlich ist mir als Mensch nicht nur der zwischenmenschliche Kontakt wichtig. Ich bin ein enormer Fan von Reisen, vom Kennenlernen der Kulturen, ob historisch, religiös oder beim landestypischen Essen. Mit dem Sport war ich fast überall auf der Welt. Das kann mir niemand mehr nehmen. Und diese Welt, diese Tätigkeit für den Sport, mein Leben, das ist einfach alles sensationell schön. Was ich mir für die Zukunft wünsche? Es soll alles bleiben, wie es ist.»

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