28.03.2019

Alles für ein paar «Herzen»

Videos erstellen ist beliebt. Mit der App Tik Tok können Kinder und Jugendliche innert Kürze ihre eigenen Videos drehen und einem Millionenpublikum zeigen. Doch der Grat zwischen Ruhm und Demütigung ist schmal.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
Benjamin SchmidWas macht die Generation Z die ganze Zeit am Smartphone? Die Lieblingsbeschäftigung von Kindern und Jugendlichen ist das Erstellen und Posten von kurzen Instagram-Geschichten oder sich selbstständig löschenden Schnappschüssen auf Snapchat. Für die jüngsten Nutzer sozialer Netzwerke sind sie bereits Schnee von gestern. Der neuste Schrei kommt aus China und heisst Tiktok. «Es ist ein mobiles soziales Netzwerk, das seinen Mitgliedern mit wenigen Handgriffen erlaubt, kurze Videos mit allerlei visuellen und interaktiven Spielereien zu erstellen», sagt Lotte Paus aus Rebstein, und Tamina Giradelli, ebenfalls aus Rebstein, ergänzt: «Am bekanntesten ist die App, weil User schnell und leicht sogenannte lip sync (lippensynchrone) Videos zu Charthits aufnehmen können.» Dem Nutzer steht eine ganze Bibliothek von Effekten und Filtern zur Verfügung. Mittlerweile gibt es auf der Plattform Videos zu jedem erdenklichen Thema. Es gibt Parodien auf Ohrenwürmer, Filmer unterhalten sich mit Cartoonfiguren, anstelle von Händen sieht man Federn, die Filme laufen in Zeitlupentempo oder rückwärts.Jede einzelne Sekunde zählt«Make every second count», lautet der Slogan von Tiktok. Bei den kurzen Videos bleibt keine Zeit für Erklärungen. «Erlaubt ist alles», sagt Angjelina Kennou aus Rebstein, «je ausgeflippter, einzigartiger, cooler und lustiger ein Video ist, desto mehr ‹Herzen› erhält es.» Mit einem Wisch über den Bildschirm folgt das nächste Video. Einerseits kann man seinen Freunden und Vorbildern folgen, andererseits können binnen weniger Sekunden eigene Videos kreiert werden. «Ich liebe es, Videos zu drehen und mit Musik zu unterlegen», sagt Tamina Giradelli. Während sie zwei bis drei Videos pro Woche dreht, bearbeitet und online stellt, konsumiert Lotte Paus eher Inhalte, als eigene zu veröffentlichen. Es sei nicht besonders schwierig, ein Video zu machen und mit verschiedenen Filtern zu bearbeiten, und dennoch könne man dafür Stunden aufwenden. «Je professioneller das Endprodukt aussehen soll, desto mehr Zeit braucht es», sagt Angjelina Kennou, «weil es mir sehr viel Spass macht, verweile ich auch mal länger auf der Plattform.»Likes und Follower zählen noch mehr«In der Schnelllebigkeit sozialer Medien sehen viele Jugendliche die Möglichkeit, auf die Schnelle zu Ruhm, Anerkennung und Ansehen zu kommen», sagt Simon Stieger, Schulsozialarbeiter in Rebstein, «Teenager sind fasziniert und träumen davon, einen erfolgreichen Social-Media-Kanal zu betreiben oder als Influencer durch die Welt zu jetten.» Für ein wenig Aufmerksamkeit nehmen sie einiges in Kauf. Obwohl die Primarschülerinnen unisono versichern, dass ihnen Likes und Followers nicht so wichtig sind, dreht es sich doch darum. Die vier Mädchen folgen bedeutend weniger Personen, als sie Followers vorweisen können – was die Schülerinnen nicht ohne Stolz erwähnen. «Es ist schon cool, wenn man viele Likes, Herzen und nette Kommentare bekommt», sagen Lotte und Tamina. Einerseits wollen sich Kinder und Jugendliche von den Erwachsenen abgrenzen und suchen sich eigene Betätigungsfelder abseits von Plattformen wie Facebook, Youtube und Instagram, die auch von älteren Generationen benutzt werden. Andererseits haben es Neueinsteiger bei den etablierten Plattformen viel schwerer, sich einen Namen zu machen als auf einem neuen rasant wachsenden Portal wie Tiktok, weiss Stieger.Viel Persönliches wird preisgegebenLaut den Teenagern sei es verlockend, seinen Account öffentlich zu schalten, um seine Inhalte einem grösseren Publikum zu zeigen und mehr Wertschätzung zu erfahren. «Jugendschützer und Datenschützer sehen Tiktok kritisch», sagt Simon Stieger, «denn Kinder geben oft viel von sich preis.» Es komme vor, dass junge Nutzer von anonymen Personen angeschrieben und teils aufgefordert werden, noch freizügigere Videos hochzuladen. Ein Problem, das auch schon beim Vorgänger Musical.ly kritisiert wurde, weiss der Schulsozialarbeiter. Auf der anderen Seite können sich die Kommentarspalten mit Beleidigungen, Hasskommentaren und sogar rassistischen und menschenverachtenden Aussagen füllen.Mit dem Erfolg kommen die ProblemeGemäss Medienberichten sollen bereits im Sommer 2018 weltweit mehr als 500 Millionen Menschen die App genutzt haben. Letzte Meldungen gehen von aktuell 700 Millionen aktiven Nutzern aus – Tendenz steigend. Hinter der App steckt die chinesische Firma Bytedance, die im letzten Jahr die Mitsing-App Musical.ly schluckte. Doch mit dem wachsenden Erfolg kommen auch die Probleme. Der chinesische Betreiber bedient sich reichlich an den Daten seiner Nutzer. Deswegen musste Tiktok Ende Februar in den USA eine Strafe in Höhe von 5,7 Millionen US-Dollar zahlen. Das Unternehmen hatte Daten wie die Telefonnummern und biografische Angaben von Nutzern gesammelt, die jünger als 13 Jahre alt sind – ohne dabei die Zustimmung von deren Eltern einzuholen. «Als Folge davon hat Tiktok ein Mindestalter eingeführt», sagt Simon Stieger, «wer jünger als 13 Jahre ist, darf die App ohne Erlaubnis der Erziehungsberechtigten nicht mehr nutzen.»Fraglich bleibt, wie Bytedance das zukünftig kontrollieren will, schliesslich gilt hierzulande das Alterslimit schon länger. «Wer die App wirklich nutzen will, der kann das immer noch», sagt Luna Häni aus Rebstein, «Das für die Anmeldung benötigte Geburtsjahr lässt sich leicht fälschen.» Alle vier Mädchen haben gemäss eigenen Angaben schon länger einen Tiktok-Account, obwohl keine von ihnen 13 Jahre alt ist. «Meine Eltern haben mir die Nutzung erlaubt», sagt Luna Häni, «nachdem mein Account auf «privat» gestellt wurde und so Fremden der Blick darauf versperrt ist.» Gemäss Simon Stieger sei ein weiteres Problem, dass Tiktok hochgeladene Videos z. B. für Werbezwecke verwenden darf – auch wenn das Konto privat ist. Theoretisch kann Bytedance mit den Videos Millionen machen, ohne dass seine Nutzer einen Cent dafür bekommen. «Und das alles für ein paar Herzen», sagt Simon Stieger.

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