07.06.2020

Alle wollen warten, aber niemand hat die Geduld dazu

Die Forderung, Lehren nicht zu früh zu fixieren, ist seit Jahren ein Dauerbrenner.

Von Yves Solenthaler
aktualisiert am 03.11.2022
AGV-Sekretär Thomas Bolt nennt die im «Corona-Aufruf» genannte Forderung, mit dem Unterschreiben der Verträge zuzuwarten, einen «Appell an die Vernunft». Kantonsrat Sandro Hess sagt dazu: «Ich rede mit vielen Leuten über dieses Thema. Jede und jeder sagt, dass es eigentlich besser wäre, die Lehrstelle nicht schon ein Jahr im Voraus zu vereinbaren.»Vernunft ist das, was jeder will, aber keiner praktiziert. Denn in der Realität werden die meisten Lehrverträge noch im Vorjahr unterschrieben, oft nur knapp in der zweiten Jahreshälfte. Das führt dazu, dass Lehrstellensuchende spätestens dann unter Druck geraten, wenn sie im September noch keinen Lehrvertrag unterschrieben haben, der ab dem August des nächsten Jahres gültig ist. Und Arbeitgeber neigen zu Torschusspanik, wenn die Lehrstellen bis dann noch nicht besetzt sind.Gentlemen Agreements wie vor ein paar Jahren das «Credo Fairplay» des AGV Rheintal funktionieren immer nur ein paar Jahre. Die 2014 lancierte Aktion, die als Stichtag den 1. September des Vorjahres vorgesehen hatte, die ohnehin nicht verbindlich war, wurde nach drei Jahren in eine Empfehlung umgewandelt. Ein reiner Papiertiger.Der Balgacher CVP-Kantonsrat Sandro Hess kennt als Oberstufenschulleiter die Nöte der Lehrstellensuchenden. Eine seriöse Berufswahl sei unter diesen Umständen stark erschwert. Die für sie an sich positive Tatsache, dass das Angebot grösser ist als die Nachfrage, werde zur Belastung: «Lehrbetriebe schliessen mit guten Schulabgängern so früh wie möglich ab.» Zeitdruck und fehlende Reife (zum Teil handelt es sich um 14-Jährige) führten zu überhasteten Entscheiden, die sich als falsch herausstellen – und zu Lehrabbrüchen führen.Bereits im Februar 2018 hatte Hess mit seinen CVP-Ratskollegen Patrick Dürr (Widnau) und Andreas Broger (Altstätten) ein Postulat zu diesem Problem eingereicht. Die Antwort der Regierung (Nichteintreten) fiel für sie nicht zufriedenstellend aus. Im April vor einem Jahr fragten dieselben drei Kantonsräte per Interpellation: «Haben Lehrabbrüche zugenommen?» Die St. Galler Regierung antwortete, dass Vertragsauflösungen zwischen 2010 und 2018 sukzessive von 7,8 auf 9,4 Prozent gestiegen seien. Die meist genannten Gründe für Lehrabbrüche sind mit je 25 Prozent die Leistungen der Lernenden sowie eine falsche Berufs- und Lehrstellenwahl. Man kann sich zumindest vorstellen, dass dabei oft eine nicht fundierte Berufswahl eine Rolle spielt.In einer einfachen Anfrage vom 20. März 2020 bringen die drei Kantonsräte Hess, Dürr und Broger vor dem Hintergrund der Coronakrise die Einführung des Stichtages 1. November ins Spiel, vor dem keine Verträge unterschrieben werden sollen. Die Kantonsregierung lehnt dies ab mit dem Hinweis, dass der Abschluss eines Lehrvertrags ein privatrechtliches Geschäft sei. Für staatliche Massnahmen müsste Dringlichkeitsrecht angewandt werden, was unverhältnismässig sei.Sandro Hess ist über diese Antwort enttäuscht: «Die Regierung könnte sich in diesem Bereich ruhig stärker engagieren.» Bleibt die Forderung nach einem Stichtag ein frommer Wunsch? Hess findet sich damit nicht ab: «In der Politik gilt oft das Sprichwort: Steter Tropfen höhlt den Stein.»

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