13.09.2021

«Alle Wege sind legitim und nötig»: Jetzt spricht der Regenbogen-Aktivist

Zwei Fussgängerstreifen wurden über Nacht bunt. Der Aktivist erklärt, weshalb er die Spraydose in die Hand nahm.

Von rez
aktualisiert am 03.11.2022
Ein Nachmittag auf einem Spielplatz in Rankweil. Walter* kommt pünktlich, grüsst freundlich und setzt sich. Er ist der Mann, der für die Farbe auf den Fussgängerstreifen in Balgach und Widnau verantwortlich war. Dem politischen Aktivisten ist bewusst, dass er sich strafbar gemacht hat, dennoch erachtet er die Aktion als legitim. Sie ist ein Statement für ein Ja zur Vorlage «Ehe für alle», über die die Schweizerinnen und Schweizer am Sonntag, 26. September, abstimmen. Die Regenbogenfarben auf der Strasse verkörpern die bekannte bunte Fahne, die für die Vielfalt der Lebensformen und Beziehungen unter Menschen steht.  Die eingefärbten Fussgängerstreifen sind eine unmissverständliche Botschaft für ein Ja zur «Ehe für alle». Weshalb kämpfst du mit solchen Mitteln dafür?  Die Aktion führt zu sehr viel Aufmerksamkeit für das Thema. Es spricht sich in Familien, Betrieben und Freundeskreisen herum, liefert Diskussionsstoff. Auch die Zeitung hat darüber berichtet. Extrem viele Leute sehen die Farben in sehr kurzer Zeit. Die Hauptstrasse in Balgach und die Unterdorfstrasse in Widnau sind sehr stark befahren und deshalb ein idealer Ort. Und zuletzt: Es ist rein grafisch sehr naheliegend, genau einen Zebrastreifen als Motiv für die Regenbogenfahne zu wählen, er liegt quasi auf dem Silbertablett.  Die Polizei und die Gemeinde sagen, es gebe genug geeignetere Plattformen für den Abstimmungskampf. Diese Aktion ist nur ein Teil meines Engagements für die Sache, ich bin ja auch an anderen Anlässen zur Meinungsbildung für die «Ehe für alle» anzutreffen. Ich finde einfach, es ist eine entscheidende Sache und in diesem Herbst auch Abstimmungsvorlage für viele Menschen, unter anderem in meinem direkten Umfeld. Da erachte ich alle Mittel und Wege als legitim und nötig. [caption_left: Bild: Am Sonntag erinnerte der Fussgängerstreifen bei der Gerbe in Balgach noch die Flagge der LGBTIQ-Community. (Bild: Remo Zollinger)]Hast du keine Angst, von der Polizei erwischt und verhaftet zu werden? Angst ist ein schlechter Begleiter. Es ist aber schon hilfreich, eine gewisse Anspannung zu haben und immer aufmerksam zu sein. Das betrifft nicht nur einen möglichen Aufgriff durch die Polizisten, sondern auch Anwohnerinnen und Anwohner, die vielleicht auch in der Lage sind, physisch gegen mich vorzugehen. Genug sportlich, um zu entwischen, wäre ich sicher – aber auch die Polizisten sind in der Regel nicht gerade unsportlich. Zudem sind sie bewaffnet. Das macht eine Verfolgungsjagd nicht gerade einfacher.  Lässt dich die Androhung von rechtlichen Sanktionen völlig kalt? Völlig kalt lässt mich das selbstverständlich nicht, aber Gesetze sind auch kein grundsätzlicher Hinderungsgrund für solche Aktionen. Es ist daher umso wichtiger, sie so schnell und unproblematisch wie möglich durchzuführen und dabei eine gute Portion Vorsicht walten zu lassen. Lieber einmal zu viel als zu wenig ins Gebüsch springen, wenn ein Auto zu hören oder Lichter zu sehen sind. Wichtig ist natürlich auch, dass jemand Schmiere steht.  Ist mit noch mehr eingefärbten Fussgängerstreifen zu rechnen? Das hoffe ich.  Gehört es zum politischen Aktivismus, bewusst Regeln zu übertreten und mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten? Ich denke, es gibt sehr viele Wege und Arten, politisch aktiv zu sein. Es gibt viele Möglichkeiten, in legalem Rahmen Aktionen durchzuführen. Ich glaube aber auch, es gibt Themen und Probleme, die für mich und meine Freundinnen und Freunde so wichtig sind, dass wir es als legitim erachten, Regeln zu brechen. Ich denke da beispielsweise auch an Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, die ganze Autobahnen blockieren, wodurch hunderte Menschen zu spät zur Arbeit kommen. Das Anliegen, Gesprächsstoff auszulösen, wird so aber besser durchgesetzt als mit einer legalen Aktion. [caption_left: Bild: Schon am Mittwochmorgen war auch in Widnau an der Unterdorfstrasse ein Zebrastreifen bunt. (Bild: Hildegard Bickel)]Ist das Vorgehen demnach zielführend? Ja. Grund dafür ist, wie bereits angesprochen, die Aufmerksamkeit, die ein Thema so bekommt. Führt das dazu, dass sich die Menschen mehr als zwei Tage vor dem Abstimmungskampf mit einer Vorlage beschäftigen, ist das ein Fortschritt. Noch schöner wäre natürlich, würden sie nach einem Gespräch darüber ihre Meinung ändern, und sei es nur eine Person. In der Politik prallen immer wieder verschiedene Meinungen aufeinander; etwa, wenn Junge progressivere Ansichten haben als ihre konservativen Eltern oder auch umgekehrt.  Warum ist dir ein Ja zur «Ehe für alle» so wichtig?  Dafür gibt es drei Gründe. Der erste ist: Ich habe in meinem Umfeld viele Menschen aus der LGBTIQ+-Community und ich will nicht, dass sie benachteiligt werden dafür, was sie sind. Dann ist es in meinen Augen gegen das Schweizer Grundgesetz, dass nicht-heterosexuelle Paare weniger Rechte haben als andere. Es heisst, vor dem Gesetz seien alle gleich, aber bei einem für so viele Menschen so wichtiges Thema wird das Grundgesetz nicht gelebt. Letztlich geht’s um Politikerinnen und Politiker, die sich gern für eine moderne, freundliche und liberale Schweiz rühmen. Dabei ist die Schweiz bei diesem Thema sehr weit hinter anderen Staaten, die teils deutlich weniger «entwickelt» sind als die Schweiz.  Der Nationalrat (136:48 Ja- zu Nein-Stimmen bei neun Enthaltungen) und der Ständerat (24:11:7) haben sich deutlich für die Vorlage ausgesprochen. Wagst du eine Einschätzung? Es freut mich, dass die Politik grossmehrheitlich Ja sagt. Dennoch bin ich etwas besorgt, ob alle Menschen, die Ja stimmen wollen, dies auch wirklich tun. Grundsätzlich ist die Abstimmungsbeteiligung in konservativen Kreisen grösser als in anderen. Ich denke darum, es könnte durchaus eng werden. Ich hoffe, alle Menschen, die meine Meinung und Einstellung teilen, gehen am 26. September abstimmen und legen ein Ja in die Urne.   *Name geändert

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