14.03.2021

«Alkohol zerstörte meine Familie»

Rafael Fuhrts* Vater war alkoholsüchtig, starb wie seine Grosseltern früh und hinterliess einen hilflosen Jungen.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
«Die Aktivitäten, zu denen mich mein Vater an den gemeinsamen Wochenenden mitgenommen hatte, waren nicht kindgerecht», sagt Rafael Fuhrt, der in Staad aufgewachsen ist. «Doch für mich war es normal, stundenlang im Restaurant zu sitzen.» Es sei sein zweites Zuhause gewesen. Er kannte sie alle – Pächter, Stammgäste und die Trinkkollegen seines Vaters. Der 37-Jährige erinnert sich, wie er als Kind täglich das Leergut seines Vaters gegen volle Bierflaschen umtauschte. Wie ambivalent es für ihn war. Einerseits hatte er es gern für seinen Papi gemacht, andererseits wusste er, dass es ihm nicht guttat.Der Alkohol war omnipräsent und die Sucht wirkte sich auf den Alltag und das Familienleben aus. Sie hätten selten etwas unternommen, kaum Natur- oder Tierparks besucht und seien nur einmal gemeinsam ins Schwimmbad gegangen. Selten lud Rafael Freunde zu sich nach Hause ein – nicht, weil er sich für seinen Vater schämte, sondern weil die Sucht sein Verhalten unvorhersehbar gemacht hatte. «Manchmal brachte er fremde Trinkkollegen nach Hause und liess sie eine Woche bei uns wohnen», sagt der Fachmann Betreuung. Trotz der Sucht habe er eine starke Bindung zu seinem Vater gehabt. Er war sein Held. Von ihm fühlte er sich immer verstanden und sein Vater glaubte stets an ihn. Ganz im Gegensatz zu seiner Mutter, mit ihr hatte er fortwährend ein problematisches Verhältnis.Die Unbeschwertheit der Kindheit«Wie sollte ich als Kind erkennen, dass es nicht normal war, wenn der Vater täglich flaschenweise Bier zu sich nahm?», fragt Rafael Fuhrt, «ich kannte ihn nicht anders.» Für ihn war es Alltag und er dachte sich nichts Böses dabei. Das Erscheinungsbild seines Vaters entsprach nie dem, was man von einem Trinker erwartet. Er war weder dicklich noch aufgedunsen, auch hatte er nie die bekannte Trinkernase. Als sein Vater nicht mehr an den Wiederholungskursen des Militärs teilnehmen durfte, war das ungewöhnlich, aber nicht alarmierend. Erst als er seinen Job verlor, begann es Rafael langsam zu dämmern.Einige Male habe er ihn darauf angesprochen und gefragt, wieso er nicht aufhöre zu trinken. Und obwohl seinem Vater die Sucht bewusst war, und er darüber sprach, konnte er seinem Sohn keine passende Antwort liefern.  Während seine Mutter sich immer mehr vom Ehemann und der Familie abkapselte und ihr eigenes Leben lebte, versuchte Rafael, auf seinen Vater aufzupassen. «Als Primarschüler musste ich ihn oft stützend nach Hause begleiten», sagt der Fachmann Betreuung. Selbst seine frühesten Erinnerungen an seinen Vater seien mit Alkohol verknüpft. Immer, wenn er aus Angst zu seinem Papi ins Bett gekrochen sei, habe es komisch gerochen. «Ich kann mich nicht erinnern, meinen Papi nüchtern erlebt zu haben», sagt Rafael Fuhrt. Sein Vater kam selbst aus einer suchtbelasteten Familie. So starb Rafaels Grossvater vor seiner Geburt und die Grossmutter nur kurz danach. «Alkohol hat meine Familie zerstört», sagt der 37-Jährige, «Habe ich wegen der Scheidung meiner Eltern meine Hauptbezugsperson verloren, warf mich der Tod meines Vaters vollends aus der Bahn.» Aber statt in die Fussstapfen seines Vaters zu treten und selbst seinen Kummer im Alkohol zu ertränken, gelang es ihm, seinem Leben eine Wendung zu geben. Suchtkranke Eltern sind kein EinzelfallSo schlimm die Ereignisse seiner Kindheit auch waren, Rafael Fuhrt fühlte sich stets geliebt. Mit dem Tod seines Vaters hat er bis heute zu kämpfen. «Ich fühlte mich lange Zeit schuldig an seinem Tod», sagt der Fachmann Betreuung. Einerseits machte er sich Vorwürfe, andererseits baute er um sich einen Schutzwall auf. «Ich fühlte mich allein gelassen», sagt der passionierte Musiker, «weder von meinem Umfeld noch von den Behörden wurde ich unterstützt.» Das Erlebte beeinflusst sein Leben bis heute: Sein Glaube an Erwachsene und Behörden hat gelitten, er fürchtet sich davor, wieder geliebte Menschen zu verlieren und er fühlt sich seiner Kindheit beraubt. Viel zu früh musste er Verantwortung übernehmen, in einer Situation, die Kindern eigentlich erspart bleiben sollte. Und doch ist es nach wie vor Realität. «Ähnliche Geschichten findet man in fast jedem Dorf», sagt Rafael Fuhrt. Seit einem Jahr engagiert er sich im Verein «Löwenzahnkinder». Gegründet wurde der Verein von Michelle Halbheer, deren Geschichte als «Platzspitzbaby» nationale Bekanntheit erlangte. Der Verein ist von Betroffenen für Betroffene und möchte den Kindern suchtkranker Eltern eine Stimme geben. Darüber zu sprechen ist hart, aber hilfreichIn seiner Familie wurde die Sucht zwar thematisiert, aber die damit einhergehenden Probleme zu wenig ernsthaft aufgearbeitet. «Ich musste hilflos mit ansehen, wie sich mein Vater zu Tode gesoffen hat», sagt Rafael Fuhrt. Weil er nicht so enden und die Familiengeschichte durchbrechen wollte, haben ihn die Umstände seiner Kindheit zu einem besseren Erwachsenen gemacht. Ausserdem habe er in dieser Phase der Trauer seine Liebe fürs Leben gefunden und mit ihr eine eigene Familie gegründet. Bei ihr fand er Trost und schöpfte wieder Hoffnung.Obschon die negativen Auswirkungen von Alkohol bekannt sind, habe er noch einen zu hohen Stellenwert in der Gesellschaft. Damit in Zukunft weniger Kinder darunter leiden müssen, erzählt er seine Geschichte. «Betroffene müssen sehen, dass sie nicht allein sind und dass es Anlaufstellen gibt, bei denen man Hilfe einfordern kann», sagt Rafael Fuhrt.*Name der Redaktion bekannt.  Kindern eine Stimme gebenDie Idee, eine Woche den Kindern von suchtkranken Eltern zu widmen, geht auf die amerikanische National Association for Children of Alcoholics (NACOA) zurück. Nachdem sich immer mehr Länder angeschlossen hatten, wurde die Aktionswoche 2018 erstmals durchgeführt. 2019 schloss sich die Schweiz dieser Bewegung an. Rund 100000 Kinder leben mit einem Elternteil, der Alkohol oder eine andere Substanz auf problematische Weise konsumiert und in einem grossen Teil der Fälle süchtig ist. Jedes Jahr im Frühling bekommen diese Kinder in der Aktionswoche eine Stimme. Ziel der Aktionswoche ist es, mit dem Tabu zu brechen sowie auf die Situation und die Bedürfnisse der Kinder von suchtkranken Eltern aufmerksam zu machen. HinweisWeitere Informationen unter: www.loewenzahnkinder.com und enfants-parents-dependants.ch

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