07.02.2020

Agil am Markt, starr in den Köpfen

Das Rheintal wird gern belächelt. Um wirtschaftlich erfolgreich zu bleiben, setzt man neu auf Selbstironie. Eine Aussensicht.

Von Adrian Lemmenmeier
aktualisiert am 03.11.2022
Von René Schneiders Balkon sieht man das halbe Mittelrheintal: Widnau, Au, Berneck, Balgach, Diepoldsau. Wohnblöcke, Einfamilienhäuser, Industriebauten. Die Siedlungen liegen da, als hätte sie ein Riese hingekleckst: Ihre Zentren sind vage erkennbar, die Ausläufer aber haben sich verwoben zu einem riesigen Agglomerationsbrei. Über 30000 Menschen wohnen hier. «Die meisten wissen nicht, wo ihre Gemeinde aufhört und die nächste anfängt», sagt Schneider. Der Stadtsanktgaller hat den Grossteil seines Lebens im Rheintal verbracht. Fast dreissig Jahre arbeitete er als Redaktor beim «Rheintaler». Schneider lacht. Er gelte trotzdem nach wie vor als Zugezogener – oder Fremder, wie man hier auch sagt.Das St. Galler Rheintal vereint Aspekte, die auf den ersten Blick im Widerspruch zueinander stehen. Wirtschaftlich gesehen ist die Region so weltoffen wie keine andere in St. Gallen. Hier produzieren Hochtechnologiefirmen wie Leica, Jansen oder SFS für den globalen Markt. Die Exportrate pro Kopf liegt weit über dem Schweizer Durchschnitt. Politisch gesehen ist der Wahlkreis aber einer der konservativsten. Die SVP hat der CVP und der FDP längst den Rang abgelaufen. SP und Grüne sind eine Randerscheinung.Bloss nicht zu gross werdenBevor Schneider als junger Mann ins Rheintal zog, hatte man ihn gewarnt. Die Leute dort seien garstig, hemdsärmelig und schroff. «Das stimmt», sagt Schneider, sei aber nur die eine Seite der Medaille. Als er in Heerbrugg das erste Mal eine Beiz betreten habe, hätten ihn die Leute am Nebentisch gefragt, ob er wohl zu schön sei, um sich zu ihnen zu setzen. Hier geselle man sich im Spunten eben einfach dazu, auch zu Unbekannten. Diese Herzlichkeit gehöre genauso zum Rheintal wie der manchmal unzimperliche Umgangston.Doch gewisse Geschichten bringen Schneider zum Seufzen. Vor 13 Jahren hätte im Mittelrheintal eine Stadt entstehen sollen. Geplant war die Fusion von Widnau, Au, Berneck, Balgach und Diepoldsau. Doch das Vorhaben platzte, bevor es Fahrt aufnahm. Alle fünf Gemeinden stimmten klar dagegen, die Fusion weiterzuverfolgen. Für grosse Ideen denke man hier zu klein, sagt Schneider. Ein Widnauer gehe allenfalls nach Berneck an die Fasnacht. Aber zusammen eine Stadt gründen? Keine Chance.Die Grenze formt den GeistSpricht man mit Einheimischen übers Rheintal, heisst es immer wieder, man müsse unterscheiden. Zwischen dem unteren Rheintal, das zu einer Agglomeration zusammengewachsen ist, und dem dörflich geprägten Oberrheintal. Unten am Fluss, wo viele Zugezogene in der Industrie arbeiten, seien Regionalstolz und Konservativismus weniger ausgeprägt als oben.Das bestätigt Walter Hess. 23 Jahre war der Mathematiker Ammann der Oberrheintaler Gemeinde Oberriet. Vier Jahre sass er im Nationalrat. Er erlebte, wie die CVP schrittweise ihre Hausmacht an die SVP verlor. Bei den letzten Kantonsratswahlen holte die Volkspartei hier 47 Prozent der Stimmen und erreichte damit den höchsten Anteil im ganzen Kanton. Im Rheintal seien Bewegungen, die sich gegen die Classe politique richten, schon immer gut angekommen, sagt Hess. Schwarzenbachs Republikaner in den 1970er-Jahren genauso wie die Autopartei in den 1990er-Jahren – und schliesslich die SVP. Das möge an der Geschichte liegen, war doch das Rheintal bis zur Helvetischen Revolution Untertanengebiet der Eidgenossen. Für die politische Stimmung spiele aber auch die Nähe zur Grenze eine Rolle. Drogenschmuggel und Einbrecherbanden seien hier real. «Deshalb haben die Leute ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Sicherheit.» Heimweh-Rheintaler zurückholenDas Rheintal hadert mit seinem Ruf. Der Slogan «Chancental», mit dem die Region lange geworben hat, wird gern belächelt. Und der Satz «Ohne Rheintal keine Schweiz», der auf manchem Autoheck prangte, klingt für viele nach tiefer Provinz.Für die Industrie ist der Ruf des Tals allerdings zentral. Um zu wachsen, sind die Firmen auf Fachkräfte angewiesen. Dabei steht das Tal in Konkurrenz mit dem Raum Zürich. Und mit Vorarlberg. Die Wirtschaft in Österreichs östlichstem Bundesland ist in den letzten zwanzig Jahren stark gewachsen, die Lohnniveaus gleichen sich an.Sabina Saggioro ist beim Verein St. Galler Rheintal verantwortlich für Standortmarketing. Man habe gelernt, damit umzugehen, dass das Rheintal auch belächelt werde, sagt sie. Eine neue Internetkampagne, die Fachkräften die Region schmackhaft machen soll, setzt denn auch auf Selbstironie. So erklärt etwa der Rheintaler Kabarettist Nico Arn in Kurzvideos Eigenheiten der Region. Wein mache man im Rheintal, um den Ribel runterzuspülen, heisst es da etwa. Die Kampagne wolle Fachleute ansprechen, besonders Heimweh-Rheintaler, sagt Saggioro. Spezialisten, die etwa in Zürich studiert haben, aber mit einer Rückkehr ins Rheintal liebäugeln.Vom Schlagwort «Chancental» hingegen hat sich das Standortmarketing verabschiedet. Bald soll die entsprechende Tafel an der A13 bei Sennwald entfernt werden. Jene in der Gegenrichtung wurde schon vor Jahren umgefahren. Man hat sie nicht wieder aufgestellt.Der Text erschien am Freitag, 7. Februar, im Ostschweiz-Teil des "Rheintalers"

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