24.03.2020

Acht Geschwister lernen am selben Tisch

Die Schulen sind geschlossen, die Kinder bleiben zu Hause. Wie eine Familie mit zehn Kindern den neuen Alltag meistert.

Von Interview: Hildegard Bickel
aktualisiert am 03.11.2022
«Halleluja!» – dürften so manche Eltern mit zwei oder drei Kindern seufzend über die Schulschliessungen gedacht haben. Was aber bedeutet die Umstellung für eine Grossfamilie wie Baumgartners aus St. Margrethen? Mutter Tabea erzählt vom Leben im Corona-Modus.Wie reagierten Ihre Kinder auf den Entscheid der Schule?Tabea Baumgartner: Juhu, keine Schule! Aber nur am Anfang, bis klar wurde, was das alles bedeutet. Trotzdem lernen, nicht nach draussen zum Spielplatz gehen, abgesagte Fussballturniere und Vereinstermine.Wie gestalten Sie den neuen Alltag?Es muss einen klaren Ablauf geben. Der Alltag beginnt normal, wie sonst auch, um 6.15 Uhr. Aufstehen, frühstücken, Zähne putzen, anziehen, Betten machen. Um 8 Uhr werden die Arbeitsplätze bei uns am Esstisch eingerichtet, dann arbeiten die Kinder bis 12 Uhr, oder eher länger, an den Aufgaben. Wir haben das Mittagessen auf 12.30 Uhr verschoben, da ich auch noch kochen sollte und nun mit der zusätzlichen Präsenz die Zeit vielfach davonläuft. Die grösseren Kinder sind auch am Nachmittag mit Unterricht beschäftigt, ausgenommen am Mittwoch. Jedes der Kinder hat seine eigene Box mit dem ganzen Schulmaterial drin, damit Ordnung herrscht und nichts verloren geht.Als grösste Änderung empfindet es die Mutter, nun auch noch die Rolle der Lehrerin einzunehmen. Joanna ergänzt, das sei sehr komisch. Doch auch wenn die Kinder damit zu Beginn ein wenig Mühe bekundeten, haben sie sich mittlerweile daran gewöhnt.Wie viele Ihrer Kinder haben zu Hause Unterricht?Es sind acht Kinder, die mit der neuen Herausforderung zurecht kommen müssen. Unser grösster, Sasha, ist in der RS in Gossau und bereitet sich auf einen eventuellen Einsatz zur Unterstützung der Sicherheit vor. Er darf die nächsten Wochen nicht nach Hause kommen. Die Geschwister machen sich Sorgen um ihren Bruder, weil noch nicht alle verstehen, welche Ausmasse die ganze Situation mit sich bringt. Samuel, der zweitälteste, ist in der Vorbereitung zu seiner Lehre ab August.Konnten Sie sich mit genug Computern und Rückzugsmöglichkeiten einrichten?Da wir eine grosse Familie sind, hatten wir bereits vier Geräte zum Arbeiten. Die Schule hat uns zusätzlich zwei Geräte zur Verfügung gestellt, damit ohne lange Wartezeiten alle ihre Aufgaben lösen können. Je nach Aufgaben sind sie zusammen am Tisch oder wir haben einzelne Arbeitsplätze eingerichtet. Etwa, damit Samon ungestört per Videokonferenz den Online-Unterricht seiner Lehrpersonen erhalten kann.Samon findet diese Art Unterricht cool, weil so die Lektionen nicht gestört werden von anderen Mitschülern. Die Zwillinge Aaron und Jeromin gehen in die gleiche Klasse und können sich gegenseitig helfen.Was passiert, wenn jemand bei einer Aufgabe nicht weiterkommt?Die Kinder motivieren sich gegenseitig, nicht aufzugeben und dran zu bleiben. Es ist schön zu sehen, wenn einer den ganzen Krempel hinschmeissen will und dann die Grösseren sagen: «Du schaffst das!»Wie sehr ist die Unterstützung der Eltern nötig?Je nach Alter der Kinder ist das sehr unterschiedlich. Samon benötigt meine Hilfe am wenigsten, zum Glück, denn da wäre ich je nach Fach nicht mehr die richtige Ansprechperson. Es sind die beiden Kleinen, die am meisten Aufmerksamkeit und Förderung, besonders beim Lesen, brauchen. Bei den anderen Kindern ist meine ständige Präsenz unumgänglich. Für Fragen, Tipps, Hilfestellung – oder um Streit zu schlichten. Es herrscht der normale Familienalltag, nur mal zwei. Und fast gleich wie in der richtigen Schule, wenn der Lehrer mal nicht hinschaut, wird schön Pause gemacht.Wie läuft die Zusammenarbeit mit den Lehrkräften?Unsere Kinder haben alle sehr engagierte Lehrer. Alle auf eine andere Art, aber sie stellen hervorragende Lernkonzepte zusammen. Für uns als Eltern ist es sehr wichtig, den Kindern trotz unüblicher Schulform zu vermitteln, dass es eine Lernzeit gibt und sie nicht frei haben. Joanna ächzt bereits und murrt, es sei viel strenger als in der Schule. Und in der Tat, die Kinder sind nachmittags geschafft.Draussen ist es Frühling. Wie verhält sich Social Distancing mit dem Bewegungsdrang Ihrer Kinder?Wir sind in der glücklichen Lage, einen riesigen Garten zu haben. Die Kinder können sich jeden Nachmittag austoben mit Trampolinspringen, Fussball spielen (zum Leidwesen des Rasens), Pflöcklä, Fangis spielen, Schnitzen, Sändele. Was ihnen alles so einfällt. Zum Glück war letzte Woche schönes Wetter. Ich bin gespannt, was los ist bei uns im Haus, wenn es längere Zeit regnet. Auf die Treffen mit Schulfreunden und Nachbarskindern müssen sie derzeit verzichten. Das ist für sie recht mühsam, aber sie verstehen den Ernst der Lage. Sie können aber über die Schulplattform online mit ihren Gspänli chatten.Auf welche Tricks greifen Sie zurück, wenn es in den vier Wänden turbulent zu und her geht?Das lässt sich nicht vermeiden, aber das muss auch mal sein. Wir verfügen über verschiedene Möglichkeiten, Dampf abzulassen. Sei es mit Boxsack, Sprungmatte, kleinem Trampolin und Platz im Obergeschoss. Alle kennen die Regeln, wie weit sie gehen dürfen. Wenn sie über das Ziel hinausschiessen, folgen Konsequenzen.Zeichnen sich positive Aspekte im Familienleben ab, aufgrund Zeit und Nähe, die man nun zu Hause verbringt?Mein Mann darf nach wie vor zur Arbeit gehen, ist aber nach Feierabend oft zu Hause, was die Kinder sehr freut. Vor Corona war er regelmässig jeden Abend mit seinen vielen Verpflichtungen besetzt.Die Kinder bestätigen, es mache grossen Spass, viel Zeit mit Papa und Mama zu verbringen. Reden, Spielen, Toben und Quatsch machen stehen zurzeit ganz oben auf der Liste.Welches sind die mühsamen Seiten, die der Ausnahmezustand mit sich bringt?Ich denke, es sind Gedanken wie zum Beispiel «Geht das noch? Ist das zumutbar? Was ist noch erlaubt?», die einem den Verstand rauben könnten. Es dreht sich alles nur um ein Thema. Man muss sich jetzt nur noch auf das Wesentliche konzentrieren. Ich glaube, das ist in der heutigen Konsumgesellschaft recht schwierig zu akzeptieren. Man darf einfach nicht den Sinn dieses Ausnahmezustandes vergessen, für wen man das alles macht.Bisher sind alle Familienmitglieder symptomfrei und munter.Wie verheerend wäre es, wenn das Virus Ihre Familie erreichen würde?Wir würden es, wie alles andere auch, als Familie meistern. Die Kinder gehören gemäss Experten nicht zu den Risikogruppen. Von daher erwarten wir nicht, dass es uns gefährlich werden könnte. Aber falls es uns treffen sollte, werden wir beten und hoffen, es gehe wie bei jedem anderen Virus glimpflich aus. Für unsere Omas, Opas und Uroma würde es bei Weitem schlimmere Ausmasse annehmen. Darum sehen wir sie momentan nicht mehr. Wichtig ist es, sie zu schützen und nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Wir beschränken uns momentan auf telefonischen Kontakt.Welchen Einfluss hat die aussergewöhnliche Lage auf Ihr Einkaufsverhalten und die Vorratshaltung?Unsere Vorräte haben sich nicht wesentlich verändert. Dazu gehören Milch, Mehl, Nudeln, Reis, Zucker, Ketchup, Cola und eine gefüllte Tiefkühltruhe. Nicht zu vergessen WC-Papier. Zuvor war ich täglich im Rheinpark anzutreffen, jetzt backe ich das Brot selber und reduziere den Einkauf auf das Nötigste, um Kontakte zu reduzieren. Tragisch sind die völlig unnötigen Hamsterkäufe. Als sich die Lage verschärfte, haben wir nicht mehr unseren regelmässigen Einkauf machen können, da viele Produkte ausverkauft waren. Das machte uns ein wenig Angst. Doch wir vertrauen darauf, was Bund und Kanton mitteilen. Es werde genug Lebensmittel geben, man müsse sich nicht sorgen. Wir hoffen und wünschen uns diesbezüglich, jeder würde für die anderen mitdenken.

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