07.08.2021

Abschalten in Memmingen

Von Gert Bruderer
aktualisiert am 03.11.2022
Ich konnte es kaum fassen: Auf dem Flughafen in Memmingen waren wir ausgesperrt. Es war an einem schönen Sonntag, der nun nicht mehr schön war. Mein Sohn, damals zehn oder elf, und ich. Seiner Leidenschaft für Flugzeuge folgend, hatten wir auf der Rückfahrt von Ulm einen Abstecher zum Flugplatz gemacht. Hier holte der Sohn einen Gegenstand aus dem Kofferraum. Als er den Deckel zugeschlagen hatte, merkte er, dass er den drinnen abgelegten Autoschlüssel nicht wieder an sich genommen hatte.Fünf Stunden sassen wir fest. Der herbeigerufene Schlüsselservice liess auf sich warten, alles Wichtige lag im Auto. «Kann passieren», dachte ich über den armen, von Schuldgefühlen geplagten Tropf neben mir, trotzdem war ich leicht verstimmt. Der Aufenthalt auf Memmingens Flugplatz war ja nicht als eine Monsterübung in Geduld gedacht gewesen.Die schlechte Erinnerung an die schwäbische Stadt mutierte bald zu einer lustigen – und verschwand schliesslich im Hintergrund. Bald dachte ich kaum noch an dieses Erlebnis, auch nicht an den Ort.Reisen führten mich in schöne Städte wie Berlin oder Wien und mit dem Sohn reiste ich öfter im Zug. Statt wie in jungen Jahren nach Colorado und Arizona, nach Tunesien oder London zu fliegen, liess ich mir mit dem Älterwerden eine Art Gegenbewegung gefallen. Ferne Städte und Länder verloren an Reiz, dafür entwickelten nahe Orte mehr und mehr Anziehungskraft. So lernte ich (abgesehen von praktisch allen Schweizer Städten) München kennen, dann Augsburg, schliesslich Ulm und in den letzten Jahren – Memmingen!Dreimal war ich nun schon dort, und eigentlich ist es höchst ungeschickt, die Stadt für einen Besuch zu empfehlen. Denn anders als in München, London, Wien und im Tessin (dem zweiten Rheintal), wo überall Bekannte meine Wege kreuzten, ist mir in Memmingen nie ein vertrautes Gesicht begegnet. Memmingen ist meine Zone zum Abschalten geworden. Obschon näher als Zürich, von Stau ebenso frei wie von Parkplatzproblemen, und mit Blick auf die Einwohnerzahl der Stadt Thun vergleichbar, kennen die Rheintalerinnen und Rheintaler Memmingen höchstens wegen des Flugplatzes, der von der Altstadt drei Kilometer entfernt ist. Verbringe ich in Memmingen einige Tage, habe ich stets das Gefühl, weit weg zu sein, obschon ich nur hundert Kilometer zurückgelegt habe.Schon die Augen nehmen die Stadt als Genuss wahr. Der grosse Marktplatz mit dem Rathaus und dem sogenannten Steuerhaus, einem mittelalterlichen Verwaltungsgebäude, ist von auserlesener Schönheit. Pittoreske Gässchen und Gassen, aber auch ein Bach queren die «Stadt der Tore, Türme und Giebel», an deren Stadtmauer ein Grüngürtel entstanden ist. Wer Museen schätzt, kann etwa die Mewo-Kunsthalle besuchen, eine in Mittel- und Oberschwaben wie im Allgäu einzigartige Einrichtung von überregionaler Bedeutung.Die Mewo-Halle konnte dank Zuwendungen der Memminger Wohnungsbaugenossenschaft (Mewo) 2005 gleich neben dem Bahnhof, in den Räumen der alten Post, entstehen. Zu sehen sind hier wechselnde und stets bemerkenswerte Ausstellungen zur Kunst- und Kulturgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, aber auch ein Einblick in die Sammlungen der Memminger Maler Max Unold (1885 – 1964) und Josef Madlener (1881 – 1967) wird gelegentlich gewährt. Bemerkenswert sind auch die Eintrittspreise: maximal ein bisschen Kleingeld.Nicht der Fischertag, das bekannteste historische Fest der Stadt, trägt viel zu meiner Faszination für Memmingen bei, sondern ein cleveres Verkehrskonzept mit autofreien Räumen in der Altstadt, das Brauhaus mit Biergarten, die für eine Stadt erstaunliche Ruhe und eine stets freundliche Stimmung. Keine Frage, dass ich Memmingen ein viertes Mal besuchen werde. Ob ich dann zufällig doch ein bekanntes Gesicht treffe? Gert Bruderer

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