19.08.2022

55+ und die Arbeitswelt: Ein Thema mit vielen Fragezeichen

Am Symposium des Arbeitgeberverbands Rheintal ging es um das Potenzial der über 55-jährigen Arbeitnehmenden.

Von Remo Zollinger
aktualisiert am 02.11.2022
Das Restaurant Optik-Hus war – vielleicht unbewusst – genau der richtige Ort für das Symposium. Denn die vom AGV eingeladenen Referentinnen und Referenten beleuchteten das Thema aus jeder möglichen Optik. Zuerst aus der wissenschaftlichen, dann mittels Erfahrungsbericht aus der direkt betroffenen. Es folgten die Blickwinkel eines HR-Spezialisten, des RAV, eines Personalvermittlers sowie eines Sozialamtes.«Generation 55 plus – Potenzial ohne Ende» lautete der Titel der Veranstaltung. Er suggerierte, worum es ging, nämlich darum, das Potenzial derjenigen Arbeitnehmenden besser zu nutzen, deren berufliche Karriere sich dem Ende zuneigt. Der Titel hatte kein Satzzeichen am Ende – doch es gab Fragezeichen, in jedem Referat.Ein konkretes setzte Roland Schleith vom Arbeitgeberservice des RAV, der den Titel kurzerhand um ein solches ergänzte. Nach dem Peak der Coronawelle sei die Arbeitslosigkeit zurück gegangen, «in einer Geschwindigkeit, die ich noch nie gesehen habe.»[caption_left: Roland Schleith: «In einer Geschwindigkeit, die ich noch nie gesehen habe.»]Allerdings habe das nicht alle Altersgruppen betroffen: Bei den über 55-Jährigen ging sie nicht gleich zurück. Da stelle er die Frage, ob die Arbeitgeber sich des Potenzials dieser Menschen bewusst seien. Er zeigte, wie das RAV hilft – etwa mit Probeeinsätzen oder damit, länger einen Teil des Gehaltes zu bezahlen als das bei Jüngeren der Fall ist, damit die Einarbeitung einwandfrei gelingt.Zur Lösung des Problems gibt es kein StandardrezeptDer AGV-Präsident Klaus Brammertz hatte eingangs die Frage gestellt, ob schon mal jemand etwas vom Fachkräftemangel gehört hat. Dies war eine Anspielung auf die aktuelle Situation am Stellenmarkt – auf dem sich gleichzeitig aber auch viele über 55-Jährige tummeln, die es schwer haben, eine Anstellung zu finden.[caption_left: Klaus Brammertz: «Hat von euch schon jemand etwas vom Fachkräftemangel gehört?»]Unter dem Titel «Late Career» hat die Fachhochschule OST in St. Gallen eine Studie zu dem Thema gemacht. Professorin Sibylle Olbert-Bock kam zu Schlüssen, die sie überraschten. Etwa, dass Personen in traditionellen Karrieren mit wenigen Wechseln subjektiv zufriedener sind. Oder dass sich negative Stereotypen bezüglich des Alters hartnäckig halten – Ageism nennt sich dieses Phänomen.Wie sie waren sich alle Referenten einig: Die Karrieregestaltung von Menschen im Alter von 55 und mehr Jahren bewegt sich auf einer Flughöhe, die kein Standardrezept erlaubt. Olbert-Bock riet dazu, keine Massnahmen exklusiv für Ältere zu treffen, auch dies sei Ageism.[caption_left: Sibylle Olbert-Bock: «Personen in traditionellen Karrieren sind subjektiv zufriedener.»]Und Maurus Oehler, Leiter HR von Stadler Rheintal in St. Margrethen, sagte, nur die Generation 55+ löse den Fachkräftemangel nicht. Allerdings sei es an den Unternehmen, nicht in Fallen zu tappen und jeden einzelnen Fall minutiös individuell zu betrachten. Mit dem Alter müsse ein Arbeitgeber sich zwar zwingend auseinandersetzen, aber es sei an sich nur eine Zahl. Argumente, die für oder gegen eine Anstellung sprechen, seien wichtiger. So etwa die Beweglichkeit, körperlich wie geistig.[caption_left: Maurus Oehler: «Das Alter an sich ist nur eine Zahl.»]Ein eindrücklicher Bericht eines direkt BetroffenenViele Fragen hatte sich auch Karl Geisser aus Diepoldsau gestellt, nachdem er mit 55 Jahren trotz viel Erfolg und eines makellosen Lebenslaufs seine Stelle verlor. «Ich habe mich gefühlt wie einen faden Kaugummi, den man ausgespuckt hat. Bin ich nicht genug qualifiziert? Ist meine Karriere ins Schilf verlaufen? Bin ich einfach zu alt?», fragte er sich – und das waren nicht die einzigen Themen. Er war ernüchtert, dass auf viele Bewerbungen nur einmal eine Einladung zum Interview folgte. Und dann fragte der Familienvater sich, wie sich der Lohn entwickeln werde.[caption_left: Karl Geisser: «Ich habe mich gefühlt wie einen faden Kaugummi, den man ausgespuckt hat.»]Karl Geissers Bericht, den er in fünf Phasen gliederte, zeigte eindrücklich, welchen Schwierigkeiten die Altersgruppe 55+ auf der Stellensuche begegnet. «Alle wollen entwicklungsfähige Leute mit viel Potenzial, die am Anfang ihrer Karriere stehen», sagte er. Dabei würden über 55-Jährige so viel mitbringen. «Schenken Sie ihnen besondere Aufmerksamkeit», riet Geisser den HR-Spezialisten.Ein solcher ist Reto Halter, der in Rebstein die Halter Personal Consulting GmbH führt. Bei ihm laufen die Fäden zusammen, es treffen sich Arbeitnehmende und Arbeitgebende. Er sagte auch, es sei schwierig, Personal aus der Altersgruppe 55+ zu vermitteln.Und auch Halter riet, nicht in Schubladen zu denken. Besonders, weil die Motivation zum Jobwechsel bei vielen steige, sobald die Kinder erwachsen sind: «Dann ist die Herausforderung im Fokus, nicht der Lohn.»[caption_left: Reto Halter: «Machen Sie nicht den Fehler, in Schubladen zu denken.»]Thomas Pfeifer Leiter Soziale Dienste der Gemeinde Au, beschrieb seinen Berufsalltag mit markigen Worten. Sein Referat dürfte den einen oder anderen aufgerüttelt haben, etwa als er sagte: «Diese Menschen sind teils fertig mit der Welt.»Niemand sei gern von Sozialhilfe abhängig. Deshalb arbeite die Gemeinde mit Personalvermittlern zusammen (konkret mit Reto Halter) – und nötigenfalls mit dem zweiten Arbeitsmarkt.[caption_left: Thomas Pfeifer: «Diese Menschen sind teils fertig mit der Welt.»]

Abo Aktion schliessen
News aus der Region?

Alle Geschichten, alle Bilder

... für nur 12 Franken im Monat oder 132 Franken im Jahr.