19.04.2018

150 Patienten an einem Tag

Christian Peter Jaggi, pensionierter Arzt aus Heiden, war im Sommer 2017 als freiwilliger Helfer in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Erbil. Das Leid und die Not waren gross, aber auch der Ansporn, zu helfen.

Von Benjamin Schmid
aktualisiert am 03.11.2022
Benjamin SchmidChristian Jaggi bereitet sich auf seinen freiwilligen Einsatz im Irak vor. Es geht in das Krisengebiet um Mosul und Erbil, die Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan im Norden Iraks. Ohne grössere Verzögerungen erreicht er im Juli 2017 Erbil. Als er aus dem Flugzeug steigt, schlägt ihm weder beissender Rauch von brennenden Häusern noch Gewehrsalven kämpfender Militäreinheiten entgegen, dafür aber eine unerträgliche Hitze. Keine Flüchtlingsmassen, keine Bombenkrater und keine Panzerkarawanen – einzig der Kontrollposten bei der Fahrt vom Flughafen in die Stadt deutet auf eine gespannte militärische Lage hin. Erbil war vor dem Krieg das Wirtschafts- und Handelszentrum der Region, und die Bewohner scheinen einen Teil dieser Geschäftigkeit bewahrt zu haben. In der Stadt pulsiert das tägliche Leben. Vieles blieb vom Krieg verschont. Restaurants laden mit gedeckten Tischen ein, Händler bieten ihre Waren feil, und selbst Touristen fühlen sich relativ sicher.Geplündert und zerstörtJaggi ist nicht zum Vergnügen hier und geniesst keinen Urlaub. Sein Ziel befindet sich etwa 50 Kilometer ausserhalb von Erbil. Kaum hat er die Stadt verlassen, zeigt sich das ganze Ausmass der Zerstörung: Bombenkrater in den Strassen, gesprengte Brücken und verkohlte Militärfahrzeuge. Die umliegenden Dörfer sind geplündert und zerstört. Vereinzelt intakte Häuser, die von ihren Bewohnern fluchtartig verlassen wurden, reihen sich nahtlos an Kriegsruinen.Bevor Jaggi das Flüchtlingslager erreicht, passiert sein Konvoi erneut einen Checkpoint. Irakische Soldaten fordern sie auf, zu stoppen. Genehmigungen und Visa werden gezeigt, doch an ein Weiterkommen ist nicht zu denken. «Das grenzte schon fast an Schikane», sagt Jaggi heute, ein halbes Jahr später, und ergänzt: «Wegen der Bürokratie mussten wir täglich bis zu anderthalb Stunden bei 50 Grad im Schatten im Wagen ausharren.» Rückblickend betrachtet gehörten diese Behinderungen zu den schlimmsten Situationen in seinem dreimonatigen Hilfseinsatz. Endlich kommt Jaggi an seinem Bestimmungsort an.Vier Ärzte für 50000 PersonenEr ist als freiwilliger Arzt, über die internationale Hilfsorganisation ARDA (Adventist Development and Relief Agency), ins Flüchtlingslager gekommen. Rund um Erbil gibt es vier weitere Flüchtlingslager. Normalerweise wohnt eine Familie mit bis zu acht Personen in einem Zelt. Dieses Flüchtlingslager hat über 6000 Zelte und bietet somit Platz für knapp 50000 Personen. «Zusammen mit drei anderen Ärzten waren wir für über 150 Patienten pro Tag verantwortlich», sagt Jaggi. Glücklicherweise musste er selten lebensbedrohliche Fälle behandeln, die meisten hatten Durchfall und Erbrechen, Husten und Grippe oder dermatologische Probleme. Die hygienischen Zustände seien weit problematischer gewesen als z. B. Hunger und Durst.Dank internationaler Spenden ist die Infrastruktur erstaunlich gut. «Die Flüchtlinge waren wie eingesperrt, hatten aber Strom in den Zelten und zum Teil auch TV und Klimaanlagen», sagt Jaggi. Das aus Containern gebaute Spital verfügt über das Nötigste für die medizinische Betreuung der Menschen. Trotzdem müssen sie täglich improvisieren. Jaggis Aufgabenbereich verlagert sich zusehends weg von der Sichtung der Patienten hin zur Aus- und Weiterbildung der lokalen Ärzteschaft. Trotz unbändiger Leidenschaft für seine Tätigkeit ist Jaggi täglich mit Problemen konfrontiert. Einerseits gibt es Sprachprobleme, andererseits verursachen die grossen kulturellen Unterschiede Schwierigkeiten. «Wie willst du einer Muslima helfen, wenn sie sich nur von einer Frau behandeln lässt?», fragt der Arzt. Besonders mühsam ist die Tatsache, dass versprochene Hilfslieferungen gar nicht oder mit Verspätung ankommen. «Im Flüchtlingslager mangelt es an vielen Materialien», sagt Jaggi und fügt hinzu: «Aber es mangelt vor allem an Zukunftsperspektiven der arbeitsfähigen und -willigen Flüchtlinge.»Freundlichkeit und GastfreundschaftTrotz der vielen Klippen, die es zu bewältigen gilt, ist für Jaggi die Freundlichkeit und Gastfreundschaft der Flüchtlinge Ansporn genug, sich voll für sie einzusetzen. «Ich bin dankbar, dass es bei uns in der Schweiz anders ist», sagt er und ergänzt: «Aber in puncto Freundlichkeit und Höflichkeit können wir noch viel von den Kurden lernen.» Jaggi ist erstaunt, wie aufrichtig und zuvorkommend ihm die Menschen begegnen. «Obwohl sie nichts hatten, haben sie mich zum Tee eingeladen», erinnert sich der Arzt. Die Zeit im Lager rast. Die Sehnsucht nach seiner Frau wächst stetig, schliesslich ist es der erste humanitäre Einsatz Jaggis, bei dem ihn seine Frau nicht begleiten kann. Nach seinem Staatsexamen 1967 praktizierte er in den 70er-Jahren in Nepal und seine Frau begleitete ihn. Zwischen 1974 und 1990 lebte das Ehepaar mit seinen Kindern in der Schweiz, bevor es die Eltern 1990 ins afrikanische Malawi zog. Zwölf Jahre lang engagierten sie sich in Afrika. Von 2002 bis zu seiner Pensionierung 2006 leitete Jaggi das lokale Büro des ADRA Hilfswerks in Afghanistan, das auch für das Spital im Nordirak zuständig und in 134 Ländern aktiv ist. Bei allen Einsätzen habe er nette und aufgeschlossene Menschen kennengelernt, aber die positiven Eindrücke aus Erbil überwiegen diese. Das zeigt sich an seinem 76. Geburtstag, den er mit kurdischen Helfern und muslimischen Flüchtlingen feiert.Eine politische Lösung findenMöglicherweise haben ihn die vielen humanitären Einsätze abgehärtet oder er habe über die Zeit gelernt, mit der Not und dem Leid besser umzugehen. Auf alle Fälle kehrt Jaggi nach drei Monaten sehr zufrieden, aber etwas magerer nach Heiden zurück. «Ich kenne keinen Grund, diesen Menschen nicht zu helfen», sagt er und ergänzt: «Es fühlt sich nicht nur gut, sondern auch richtig an.»Angesprochen auf die aktuelle Lage in Kurdistan, zeichnet Jaggi allerdings ein düsteres Bild. Sollten die federführenden Parteien keinen Konsens finden, sehe er in absehbarer Zeit keinen Frieden. «Es gibt nur Hoffnung, wenn sich die Kurden mit der irakischen Regierung auf eine faire Lösung einigen, die den Kurden mehr Freiheiten zugesteht oder ihnen die Unabhängigkeit gewährt», sagt der Arzt.

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